Welche Lücke – aus lokaler oder internationaler Perspektive – möchten Sie mit Ihrer Biografie über Anna Bernhardine Eckstein schließen?

Karl Eberhard Sperl: Die kulturelle Katastrophe Deutschlands begann im Mai 1933 mit ungezählten Bücherverbrennungen. Es blieb nicht bei Schriften aus öffentlichen und privaten Bibliotheken. Alle Archive wurden systematisch "gesäubert". Was den vielen Nazis vor Ort pazifistisch oder kommunistisch vorkam, wurde als "undeutsch" vernichtet. Während die sogenannte "entartete Kunst" anderweitig zu Geld gemacht wurde, hat man Texte einfach verbrannt. Es ist ein riesenhafter Schaden entstanden.

Heute liest man, Friedensdenken habe in der evangelischen Kirche kaum eine Rolle gespielt. Das ist falsch. Aber während Sozialisten ihre Tradition im Verborgenen hüteten, sicherte in der Kirche bis in die 1960er-Jahre kaum jemand oppositionelles Schriftgut. Dabei brauchen auch Protestanten Legenden, wenn sie nicht an der Gegenwart verzweifeln wollen.

 

Sie haben vor Kurzem Ecksteins Tagebücher neu herausgegeben. Müssen mit diesen Aufzeichnungen Teile der Biografie neu oder anders bewertet werden?

Sperl: Tagebücher sind für Biografen von unschätzbarem Wert. Sie enthalten unmittelbare Reaktionen auf private und öffentliche Ereignisse. Sie dokumentieren ziemlich genau, wie einer in seinem Umfeld in einer bestimmten Zeit lebt. Aufschlussreich werden die oft knappen Einträge auch im Zusammenhang mit der jeweiligen Tagespresse. Es fasziniert mich, was sich alles mit den Möglichkeiten des Internets recherchieren lässt.

Eckstein bemüht sich intensiv um Kontakt zu Wilhelm II. Er soll sich zum Vorreiter der Friedensbewegung machen. Das habe ich lange nicht einordnen können. Eckstein setzt auf die persönliche Eitelkeit des Preußenkaisers. Zum andern will sie ihm aber auch helfen. Der Mann gerät ausgerechnet 1907 in eine große Krise. Der militaristische Journalist Maximilian Harden weist den persönlichen Freunden des Kaisers homosexuelle Neigungen nach. Das macht Wilhelm II. für das Militär erpressbar. Man wirft ihm vor, er habe die Marokko-Krise nicht für einen Schlag gegen Frankreich genutzt. So etwas dürfe sich nicht wiederholen. Der eingeschüchterte Kaiser verliert endgültig die politische Initiative. Eckstein will dem in die Enge Getriebenen Alternativen aufzeigen. In diesem Fall überschätzt sie maßlos ihre Möglichkeiten, aber für Friedensmenschen geht es nie um Erfolg oder Misserfolg. Entscheidend ist, dass ich es wenigstens versucht habe.

 

Es heißt, dass über Leben und Arbeit Ecksteins während der NS-Diktatur und ihres Schweizer Exils wenig bekannt ist. Haben Sie in Ihrem Buch neue Informationen gewonnen?

Sperl: Zu Ecksteins Leben gehören viele Enttäuschungen. Sie reagiert oft psychosomatisch. Die von ihr erhaltenen Tagebücher brechen mit dem Jahr 1929 ab, als in Coburg endgültig die Nazis die Oberhand gewinnen. Eckstein verehrt Gustav Stresemann. Von seinem plötzlichen Tod ist sie tief getroffen. Stresemanns Unterschrift für das Deutsche Reich findet sich ganz oben auf der Vertragsurkunde des Briand-Kellogg-Pakts.

Dieser Pakt ist unkündbar, samt dem Verzicht auf den Krieg als politisches Mittel. Streitigkeiten sind friedlich zu lösen, Angriffskriege als Verstoß gegen das Völkerrecht zu ahnden. Bis 1942 verfasst und versendet Eckstein Denkschriften, um diesen Pakt im Bewusstsein zu halten. Als das Goebbels-Ministerium ihr schließlich die Druckerlaubnis verweigert, wird sie schwer krank. Sie wird sich davon nie mehr erholen.

Ab 1930 wird der Alltag in Coburg unerträglich. Mein Buch zeigt als Titel das Gesicht Ecksteins auf das graue Pflaster vom Coburger Markt gemalt. Es mag die Frau getröstet haben, dass der "Coburger Mohr" auf den Kanaldeckeln nicht so schnell ersetzt werden konnte. "The first Nazi town" musste mit dieser "Rassenschande" leben. Dabei war der heilige Mauritius nicht nur von schwarzer Hautfarbe, er ist auch einer der wenigen Kriegsdienstverweigerer, zu denen sich die Christenheit bekennt.

 

Anna B. Eckstein in Wien (1911).
Anna B. Eckstein in Wien (1911).

Anna B. Eckstein war Mitglied der Coburger St.-Moriz-Gemeinde. Welche Rolle spielte ihr evangelischer Glaube für ihre Friedensmission?

Sperl: 1907 besucht Eckstein nach ihrem großen Auftritt auf der II. Haager Konferenz ihre Heimatstadt. Sie nutzt den Aufenthalt zu einem öffentlichen Vortrag. Überraschend wird sie dabei von der Coburger Pfarrerschaft unterstützt. Die befindet sich gerade im offenen Konflikt mit dem Herzog, der ihr eine konservative Kirchenleitung aufzwingen will. Die bisherige Coburger Staatskirche erweist sich als erstaunlich aufmüpfig, Miss Eckstein mit ihrer Friedensbotschaft kommt gerade recht. Diese Zustimmung hat Eckstein enorm beflügelt.

Auf dem unmittelbar anschließenden Weltkongress der Friedensbewegung in München gibt Eckstein deutschen und britischen Kirchenvertretern den eindringlichen Impuls, auch als Kirche Friedensarbeit zu leisten. Daraus entwickelt sich schließlich der Weltbund zur Freundschaftsarbeit der Kirchen. Als Jugendsekretär dieses Weltbunds wird Dietrich Bonhoeffer 1935 den berühmten Aufruf zu einem Friedenskonzil aussenden.

Ecksteins Friedens-Engagement mit und in der Kirche begann schon in Boston. Dort gehörte sie zur unitarischen "Church of Disciples". Als die USA sich 1898 das spanische Kolonialreich einverleiben, gründet ihr Gemeindepfarrer Charles G. Ames die "Liga gegen den US-Imperialismus". So findet Eckstein den Weg in die bereits 100-jährige "American Peace Society".

1918 ist Eckstein führend im Umbau der Coburger Staatskirche zur Volkskirche. Sie bringt ihre Erfahrungen aus den USA ein. Sie wird stellvertretendes Mitglied der Landessynode. Sie bleibt es auch, als Coburg 1921 Teil der bayerischen Landeskirche wird.

 

Sie haben Anna B. Eckstein einmal als eine "Heilige" bezeichnet. Wie meinen Sie das?

Sperl: Die 13-jährige Anna bekam ihren Konfirmationsspruch aus der Bergpredigt: "Seid vollkommen, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist." (Matthäus 5,48) Ich staune über ihren Konfirmator. Was für eine Zuversicht hatte der Mann für diese Konfirmandin! Ich glaube kaum, dass es unter den Lesern des Sonntagsblatts jemand mit genau diesem Spruch gibt. Wenn ja, dann möge er sich bei mir melden!

Die Friedenspredigerin Eckstein richtet den absoluten Anspruch der Bergpredigt an jeden Menschen. Selbst ihre mehrfach behinderte und hilfsbedürftige Schwester Toni ist für sie vollkommen, obwohl ihr damals in Coburg die Konfirmation verweigert wird. Einzig Wilhelm Löhe in Neuendettelsau hatte damals erkannt, dass auch konfirmiert werden darf und muss, wer den Kleinen Katechismus nicht aufsagen kann.

Als nach 1921 bayerische Vikare nach Coburg kommen, streitet sich die "Friedens-Anna" fast mit jedem von ihnen über die von den Bayern gepredigte "billige Gnade". Wer in seinem Feind keinen liebenswerten Menschen sehen kann, braucht sich nicht auf Jesus Christus zu berufen. Einzig ein Vikar Gustav Sperl macht eine Ausnahme. Er hatte im Krieg ein Bein verloren. Er versteht, warum der verlorene Krieg ein Gericht Gottes war, ein Aufrichten und Versöhnen gerade mit den Feinden. Bei ihm versäumt Eckstein keinen Gottesdienst.

 

Anna B. Eckstein: eine Chronik

Am 14. Juni 1868 kommt Anna Bernhardine Eckstein als Tochter einer Beamtenfamilie zur Welt. Mit 18 Jahren wandert sie in die USA aus, arbeitet als Erzieherin in New York, wird später Direktorin der Modern School of Languages and Literature in Boston. Sie engagiert sich für die internationale Friedensbewegung, nimmt 1907 an der Haager Friedenskonferenz teil, sammelt Unterschriften für ihre "Weltpetition zur Verhütung von Kriegen" in ganz Europa, den USA und Kanada, wird Mitbegründerin des Völkerbunds.

1913 ist sie unter den drei Nominierten für den Friedensnobelpreis, der aber an den belgischen Völkerrechtler Henri Marie LaFontaine geht. Nach dem Ersten Welkrieg organisiert sie unter anderem Hilfslieferungen aus den USA nach Deutschland, macht als Mitglied der Coburger Synode und Delegierte des Deutschen Evangelischen Kirchentags auch Kirchenpolitik. 1933 geht sie für einige Monate in ein Schweizer Exil, kehrt aber nach Coburg zurück und stirbt dort am 16. Oktober 1947.

Ihr Grabstein mit der Widmung "Vorkämpferin für den Weltfrieden" verschwindet 1962 mit Auflösung des Grabs. Erst 1987 widmet ihr die Stadt Coburg eine neu geschaffene Grünanlage im Stadtzentrum. 2013 benennt sich die Grundschule Meeder nach Anna B. Eckstein. In dieser Schule befinden sich seit 2011 das Friedensmuseum und die "Lernwerkstatt Frieden". Im Museum übernehmen Schülerinnen in der Rolle von Anna B. Eckstein regelmäßig Führungen für Schulklassen.

Jubiläumsveranstaltungen

Am 150. Geburtstag wurde im Kleinen Rosengarten in Coburg ein Baum zum Gedenken an Anna B. Eckstein gepflanzt, auf dem Albertsplatz fand eine Geburtstagsfeier statt. Nach einem Friedensgebet in der St.-Moriz-Kirche Coburg stellte Karl Eberhard Sperl am Abend sein neues Buch vor.

Ecksteins Andenken stand auch im Mittelpunkt des 7. Friedenslaufs "Roll & Renn" am 16. Juni in Meeder. Zuvor fand am Friedensbaum in Ahlstadt eine Friedensandacht statt. Auf der 30 Kilometer langen Strecke sollte Anna B. Eckstein laut Ankündigung "eine ständige Begleiterin" sein, ebenso beim Schulfest in Meeder am Nachmittag.

 

Sie verstehen sich selbst als "Seelsorger" dieser Frau, die doch schon vor mehr als 70 Jahren gestorben ist...

Sperl: Geheiligt wird das Leben eines Christen durch Gottes Wort. Im Fall der Anna B. Eckstein ist es ihr spezieller Konfirmationsspruch. Seelsorge bedeutet für mich, jedes Leben besonders zu sehen. Ich suche für jeden ein Gotteswort, das ihn im Leben und im Sterben tröstet. Auch wo die Spannung zwischen Gotteswort und Menschenwort unauflöslich bleibt, wird das Ertragen dieser Spannung zur Aufgabe eines Seelsorgers.

 

Zum 150. Geburtstag ist die Welt vom globalen Frieden wieder so weit entfernt wie seit Jahren nicht mehr, millionenfach sind Menschen aus Kriegsgebieten auf der Flucht. Welche Botschaft würde Anna B. Eckstein heute an die Mächtigen richten?

Sperl: Sie würde mit ihren Worten wohl sagen: "Der Friede ist überall zum Greifen nah. Das hat für mich mein Leben lang gegolten. Ich weiß, dass es für die gesamte Menschheit so sein muss und sein wird. Sonst hätten die Engel zu Weihnachten nicht ›Peace on Earth‹ gesungen."

 

Zur Person

Karl Eberhard Sperl (71) war von 1979 bis 2003 Pfarrer in Meeder bei Coburg. In der Gemeinde, die seit 1650 alljährlich ein Friedensdankfest zur Erinnerung an das Ende des Dreißigjährigen Krieges feiert, gründete Sperl 1982 ein Friedensmuseum. Dort begann er mit Forschungen zu Anna B. Eckstein, verfasste über sie eine Reihe biografischer Schriften und transkribierte Ecksteins persönliche Tagebücher. Zu ihrem 150. Geburtstag erschien im Verlag des Friedensmuseums sein neues Buch "Miss Eckstein und ihr Peace on Earth".