Die Zeiten hoher Kindersterblichkeit sind - zumindest in Deutschland - vorbei. Zum Glück. Denn in der Vergangenheit war es durchaus keine Seltenheit, dass Kinder früh starben: Oft starben sie unmittelbar nach der Geburt aufgrund mangelhafter medizinischer Möglichkeiten und Kenntnisse, oder der Tod raffte sie in den ersten Lebensjahren durch Kinderkrankheiten, Fieberinfekte oder durch Mangel- und Fehlernährung dahin. Ein oder gar mehrere Kinder zu verlieren, das war eine weit verbreitete Erfahrung. Von Christiane Vulpius und Wolfgang von Goethes fünf Kindern überlebte nur der Erstgeborene die erste Lebenswoche. Nikolaus und Erdmuthe von Zinzendorf, die die Herrnhuter Brüdergemeine gründeten, sahen von ihren zwölf Kindern nur drei erwachsen werden. Das Ehepaar verlor innerhalb einer Woche vier ihrer Kinder durch eine Keuchhustenepidemie. Auch schlechte äußere Lebensbedingungen trugen in der Vergangenheit zum frühen Tod von Kindern bei: Im Zeichen der aufkommenden Industrialisierung mit ihren harten Arbeitsbedingungen für die Textilarbeiterinnen starben zwischen 1871 und 1873 in Augsburg 65 Prozent aller lebend geborenen Fabrikarbeiterkinder innerhalb des ersten Lebensjahres. Heute bekommen Paare deutlich weniger Kinder - aber sie erwarten, dass diese Kinder nicht vor ihnen sterben.

Jährlich verlieren 20.000 Eltern ein Kind

Eine Erwartung, die in Deutschland etwa 20.000 Mal im Jahr enttäuscht wird. Denn trotz aller medizinischen Fortschritte, trotz verbesserten Mutterschutzes und Vorsorgeuntersuchungen für Kinder verlieren bei uns jährlich mehr als 20.000 Eltern ein Kind. "1998 kamen 3.190 Kinder tot zur Welt, 4.513 Säuglinge und Kleinkinder starben in den ersten 5 Lebensjahren, 3.343 Kinder und Jugendliche erreichten das 20. Lebensjahr nicht. Vor dem 25. Lebensjahr starben 2631 junge Menschen. Rechnen wir die Kinder dazu, die unter 500 g geboren werden und sterben und die jungen Erwachsenen zwischen 25 und 30 Jahren, so sterben insgesamt jährlich mehr als 20.000 Kinder", macht das Netzwerk "Verwaiste Eltern" eine traurige Statistik auf. Kinder sterben an Leukämie, Tumoren, Erbkrankheiten. Kinder werden ermordet, verzweifeln am Leben, an der Umwelt und bringen sich um. Kinder werden totgefahren, verunglücken beim Spiel.

Damit kommen Todesursachen in den Blick, die in vergangenen Jahrhunderten so gut wie unbekannt waren: Suizid und Verkehrsunfälle, die vor allem bei der Todesursache von Jugendlichen an vorderster Stelle stehen. Die mobile Gesellschaft, in der Individualismus und Vereinsamung allzu oft Hand in Hand gehen, fordert auch unter jungen Menschen ihren Tribut und lässt Eltern die Frage nach eigener und fremder Schuld stellen.

Der Tod eines Kindes verändert alles

Der plötzliche Tod eines Kindes stellt Eltern vor eine Menge Fragen, auf die die wenigsten vorbereitet sind. In einer Zeit, in der hilfreiche Rituale und Traditionen in Sachen Tod und Trauer im Schwinden begriffen sind und familiärer Zusammenhalt keineswegs selbstverständlich ist, müssen sie inmitten des Gefühlssturms der ersten Trauer Entscheidungen treffen, mit denen sie sich zuvor noch nie auseinander gesetzt haben: "Wollen Sie Ihr Kind nicht zur Obduktion freigeben, um der Wissenschaft damit zu helfen? Stimmen Sie einer Organspende zu, damit ein anderes Kind eine Überlebenschance hat?" Fragen, die Ärzte beim Sterben von Kindern häufiger fragen als beim Tod alter Menschen.

Wenn Kinder sterben, müssen Eltern auf die mehr oder weniger hilfreichen Trostversuche wohlmeinender Mitmenschen reagieren. "Wir bekamen zu hören, dass es wohl für unseren Sohn halt nicht der richtige Zeitpunkt gewesen sei, um auf der Welt zu leben und er später wiederkommen werde", sagte man Christiane Becker-Lehnick, als ihr erstes Kind acht Stunden nach der Geburt starb. Heute ist sie froh, dass ihr zumindest die Floskel erspart blieb: "Sie sind ja noch jung, Sie können doch noch andere Kinder bekommen."

Durch den Tod eines Kindes wird die bisherige Familienkonstellation zerstört: Der Tod zerreißt das Geflecht von Rollen, Funktionen und Beziehungsstrukturen. Nichts bleibt, wie es war. Das Paar, dessen einziges Kind stirbt, ist plötzlich keine Familie mehr, und wo es zwei Kinder gab, wird das überlebende zum Einzelkind, und unter mehreren Geschwistern müssen die Rollen neu verteilt werden. Wenn ein Kind stirbt, verändert sich das seelische Gleichgewicht der Familien im Ganzen.

Der Tod eines Kindes bedeutet oft auch eine auch Krise der Partnerschaft. Denn Männer trauern sehr oft anders als Frauen. Ein Unterschied, der häufig als große Belastung erlebt wird. Enttäuschte Erwartungen und gegenseitiges Unverständnis können zu Krisen in der Beziehung führen.

Gerade der Tod eines Kindes führt Menschen oft in eine Sinn- und Glaubenskrise, in der viele die Frage danach stellen, wie denn Gott das Leiden zulassen kann. Wer oder was trägt, wenn der Tod eines Kindes den Glauben an den "lieben Gott" erschüttert, den man bisher als Vater ansprach?

Auch wenn der Tod eines Kindes in der Vergangenheit alltäglicher war - den Schmerz und die Trauer über den Verlust hat das wohl bei den Betroffenen nicht gemindert. Von Luther wissen wir, dass er lange um sein früh verstorbenes Töchterchen Elisabeth trauerte, das im August 1528 mit nicht einmal 8 Monaten starb: "Nie vorher hätte ich geglaubt, dass ein väterliches Herz wegen des Kindes so weich sein könne", schreibt er. 1542 erlebten Katharina von Bora und Martin Luther, wie ihre 13-jährige Tochter Magdalena starb.

Es ist wohl nicht zufällig, dass gerade der Tod eines Kindes in der Bibel als Kennzeichen der erlösungsbedürftigen und unheilen Welt gesehen wird: Jesaja verknüpft die Verheißung eines neuen Himmels und einer Erde mit dem Ende jeglicher Kindersterblichkeit. Es sollen "keine Kinder mehr da sein, die nur einige Tage leben", und die Menschen "sollen keine Kinder für einen frühen Tod zeugen", lauten die Verheißungen (Jesaja 65, Verse 20 und 23), die zugleich deutlich machen, dass der Tod eines Kindes wohl zu allen Zeiten als besonders schmerzlich empfunden wurde.