Über Gleichzeitigkeit, Komplexität und Trägheit der Welt
Nassehis Buchvorstellung beginnt mit einigen einfachen Vorannahmen und einer Bestandsaufnahme, der wohl jeder zustimmen würde: Erstens passieren viele Dinge gleichzeitig, Stichwort multiple Krisen, zweitens ist das Weltgeschehen komplex, nicht linear nachvollziehbar, wie etwa die Funktion eines Lichtschalters. So weit sind wir wohl alle schon gekommen.
Der dritte Punkt seiner Bestandsaufnahme schließlich lautet: Systeme sind träge und diese Trägheit müssen wir ernst nehmen. Hinter diesem auf den ersten Blick kompliziert klingenden soziologischen Begriff verbirgt sich eine einfache Wahrheit, die wir ebenfalls zur Genüge kennen. Auch wenn sich unsere Umwelt rasant verändert - die Flutkatastrophe in den USA ist ein gutes Beispiel dafür - das System (die Politik, die Gesellschaft, das Zusammenleben) verändert sich nur langsam. Man kann zwar schnell mit ersten Maßnahmen reagieren, aber langfristige Veränderungen brauchen Zeit.
Große Gesten – leere Worte?
Multiple, komplexe Krisen und ein träges System - wie kommen wir da wieder raus? Eine Lösung, die keine wirkliche Lösung ist, ist laut Nassehi die große Geste. Und mit großen Gesten meint Nassehi vielleicht vor allem leere Worte, denn er spricht von Politiker*innen, aber auch von Populärwissenschaftler*innen, Menschen in sozialen Medien oder Glaubensgemeinschaften, die DIE Lösung präsentieren, Kontrolle vortäuschen und verkürzte Antworten liefern.
Diese großen Gesten funktionieren, sagt der Soziologe, denn mit Sätzen wie "Es ist alles viel komplizierter, als wir dachten" werden keine Wahlen gewonnen. Die Menschen sehnen sich nach einfachen Antworten - auch das kennen wir wohl alle.
Meister*innen der großen Gesten
Bis dahin klingt alles plausibel, doch dann verpasst Nassehi eine Abzweigung und landet mit großer Geste ausgerechnet nicht bei denen, die sie von Rednerpulten und Kneipenbühnen groß herausschreien: den Rechten. Stattdessen spricht er von den Grünen und wie sie es nicht schaffen, gute Gesetze durchzubringen, weil sie zu einseitig argumentieren und das Wirtschaftssystem nicht ernst nehmen.
Diese - zumindest in der Buchvorstellung - nicht erwähnte Parallele zwischen großen Gesten und rechten Parteien wie der AfD lässt mich etwas ratlos zurück. Sind es nicht gerade die Grünen, die sich in komplexen Antworten versuchen, Fehler eingestehen und immer wieder von ihren Positionen abweichen, um niemandem auf die Füße zu treten? Und sind es nicht gerade die Rechten, die Meister*innen der großen Gesten sind, zum Beispiel Alice Weidel, wenn sie sagt: "Ich lasse mir mein Schnitzel nicht wegnehmen!”?
Kleine Schritte kommen zu spät
Eine wirkliche Lösung oder zumindest eine Richtung will der Soziologe noch präsentieren und schlägt kleine Schritte vor. Eloquent und humorvoll sagt er Sätze wie "Alles, was passiert, passiert in Gegenwarten" und meint damit unseren Alltag. In unserem Alltag werden sowohl die Weichen für jede Krise als auch für deren Bewältigung gestellt, so Nassehi.
Die kleinen Schritte geben uns auch Zeit, uns an Dinge zu gewöhnen: "Man muss sich an die Dinge gewöhnen, die neu sind, dann verlieren sie ihre Bedrohlichkeit". Am Ende der Buchvorstellung geht es um Radwege und wie diese in München immer weiter ausgebaut werden, in kleinen Schritten eben.
Dass diese kleinen Schritte weit an der Lebenswirklichkeit der Menschen vorbeigehen, um die es am Anfang der Buchvorstellung ging, Menschen in Kriegs- und Krisengebieten, Menschen, die schon jetzt massiv unter der Klimakrise leiden, das bleibt leider außen vor. Kleine Schritte mögen bei Fahrradwegen eine gute Idee sein, um Autofahrende und Parkende nicht zu verärgern. Aber wenn es um die großen Krisen unserer Welt geht, muss uns schon etwas mehr einfallen.
Armin Nassehi. Kritik der großen Geste. C.H. Beck 2024. 224 Seiten, 18 Euro.
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