Unter dem Motto "Vergiftete Debatte, versperrte Wege" wollte Religionswissenschaftler Stefan Jakob Wimmer vergangene Woche mit zwei Münchnern über die Israel-Palästina-Debatte in Deutschland diskutieren. Doch die Veranstaltung in der Evangelischen Stadtakademie München, an der neben Wimmer auch Fuad Hamdan, palästinensischer Aktivist, und Gady Gronich, Geschäftsführer der Europäischen Rabbinerkonferenz in München, teilnehmen sollten, wurde vom Stadtdekanat München kurzfristig abgesagt.

Stefan Jakob Wimmer ist  Vorsitzender der "Freunde Abrahams", eines Vereins, der die interreligiöse Verständigung, insbesondere zwischen Judentum, Christentum und Islam, auf wissenschaftlicher Grundlage fördern möchte. Er hat unter dem Eindruck des 7. Oktobers 2023 sowie des Gaza-Krieges im Frühjahr 2024 eine 14-seitige "Handreichung zum Verständnis und Empfehlung zum Umgang mit den Auswirkungen in München für Schulen, Verwaltung, Gemeinden" herausgegeben. 

Wir haben mit ihm über die abgesagte Debatte, seine Handreichung und den Umgang mit dem Israel-Palästina-Konflikt in Deutschland, inbesondere München, gesprochen.

"Ich hätte nach dem 7. Oktober erwartet, dass es auf beiden Seiten zu einem Umdenken kommt"

Herr Wimmer, Sie haben im Februar eine Handreichung mit Empfehlungen zum Umgang mit den Auswirkungen des 7. Oktober 2023 und des Gaza-Kriegs in Münchner Schulen, der Verwaltung sowie Gemeinden veröffentlicht. Warum haben Sie dafür eine Notwendigkeit gesehen?

Ich hätte nach dem 7. Oktober – das war mein erster Impuls – erwartet, dass es auf beiden Seiten, also bei beiden Konfliktparteien und ihren jeweiligen Unterstützern, zu einem Umdenken kommt. Wann, wenn nicht nach einem derart verheerenden und umfassenden Ereignis?

Wie hätte dieses Umdenken aussehen sollen?

Israel und seine Unterstützer hätten erkennen können, dass die Politik der letzten Jahre in eine Katastrophe geführt hat. Ich habe wirklich gehofft, dass das zu der Einsicht führt: Es darf so nicht weitergehen, es müssen dringend die Rechte der Palästinenser stärker in den Blick genommen werden. Jetzt müsste das Ruder um 180 Grad herumgerissen werden.

Und auf der palästinensischen Seite genauso: Dass erkannt wird, die Palästinenser sind nicht immer nur Opfer. Und das Leid, das durch Gewalt entsteht, trifft doch in erster Linie die Palästinenser selbst. Auch dort hätte ich erwartet, dass man sagt: 'So können wir nicht mehr weitermachen.'

"Dieser Konflik hatt nun mal zwei Seiten, die beide auch berechtigte Positionen vertreten"

So ist es nicht gekommen.

Nein, auf beiden Seiten ist das nicht passiert. Und das Umdenken ist auch nicht bei den Unterstützern außerhalb der Region erkennbar. Stattdessen fordern die Befürworter Israels weiterhin bedingungslos einseitige Solidarität ein, ohne den Kontext zu berücksichtigen. Und das halte ich für verheerend, weil dieser Konflikt nun mal zwei Seiten hat, die beide auch berechtigte Positionen vertreten.

Hatten Sie gehofft, dieses von Ihnen erwartete Umdenken durch die Handreichung zu erreichen?

Auf der einen Seite zerreißt es mich nach wie vor, weil ich ja mit beiden Seiten verbunden bin – weil ich in meiner Biografie beide Seiten von tief innen her kennengelernt habe und irgendwie selbst mittendrin stecke. Auf der anderen Seite kann ich nicht fassen, wie falsch man in Deutschland, gerade auch in München damit umgeht. Deshalb versuche ich, erstens, mir das von der Seele zu schreiben, und zweitens, es so zu formulieren, dass vielleicht der eine oder andere etwas damit anfangen kann.

Unser Gesprächspartner Stefan Jakob Wimmer

1963 in München geboren, 1982 Abitur am Gymnasium München-Moosach, dann zwei Jahre Berufsausbildung zum Bankkaufmann bei der Commerzbank AG, Filiale Dachau.

Sieben Jahre in Jerusalem, Studium und Promotion an der Hebräischen Universität, Ägyptologie und Archäologie;
Vor- und Frühgeschichte, Provinzialrömische Archäologie und katholische Theologie an der LMU München.
Promotion 1994: Ph.D. (Hebr. Univ. Jerusalem)

Zahlreiche Ausgrabungen, tw. leitend, in Ägypten, Israel/Palästina, Jordanien, Griechenland und Niederbayern.

Seit 1998 an der Kulturwissenschaftlichen Fakultät (Institut für Ägyptologie) und an der Katholisch-Theologischen Fakultät (Alttestamentliche Theologie und Religionspädagogik) der Ludwig-Maximilians-Universität München. Zahlreiche Projekte, u.a. „Deir el Medine online“ (LMU), „Philisterprojekt“ (German-Israeli Foundation); „Die ägyptische und orientalische Rubensohn-Bibliothek, aramäische Texte aus Elephantine“ (Papyrussammlung Berlin); Crossing Boundaries. Understanding Complex Scribal Practices in Ancient Egypt zu den hieratischen Papyri am Ägyptischen Museum Turin.

Habilitation 2008, seit 2016 apl. Professor.

Seit 2011 Fachreferent für Hebraica und Alter Orient an der Orient- und Asienabteilung der Bayerischen Staatsbibliothek.

Gründung (2001 zusammen mit Prof. Dr. Dr. Manfred Görg†) und Vorsitzender (seit 2013) der Freunde Abrahams - Gesellschaft für religionsgeschichtliche Forschung und interreligiösen Dialog. Aktive Mitwirkung bei diversen Dialoginitiativen wie Nymphenburger GesprächeMünchner Forum für IslamMünchner Lehrhaus der ReligionenHaus der Kulturen und Religionen MünchenRat der Religionen - München.

Welche Reaktionen gab es auf Ihre Handreichung?

Die Resonanz habe ich überwiegend sehr, sehr positiv erlebt. Kritik gab es wenig, aber von beiden Seiten her gleichermaßen. Ob es zu einem Umdenken führt, weiß ich nicht, aber viele Leute haben mir gesagt, dass es ihnen hilft, die Dinge besser einzuordnen, in diesen komplizierten Zusammenhängen ein besseres Verständnis zu entwickeln und anders damit umzugehen. Besonders gefreut habe ich mich, dass mir auch Dr. Josef Schuster, der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, geschrieben und mitgeteilt hat, wie gut er die Handreichung findet, und dass er ihr großen Anklang wünscht.

"Angela Merkel hat nicht nur ein Bekenntnis zur Existenz Israels abgegeben, sondern ausdrücklich zur Sicherheit Israels"

Was macht den Umgang mit dem Israel-Palästina-Konflikt in Deutschland aus Ihrer Sicht denn so schwierig? Ist es die besondere Verantwortung für das jüdische Volk, das wir durch die Historie haben?

Diese Verantwortung steht nicht zur Debatte – im Gegenteil, die muss leider immer noch betont werden, obwohl das doch für alle selbstverständlich sein sollte. Aber diese besondere Verantwortung und die Staatsräson, wie Angela Merkel sie formuliert hat, bedeuten nicht Solidarität mit Israel ohne Wenn und Aber. Sie hat ausdrücklich vom diplomatischen Weg gesprochen und nicht nur ein Bekenntnis zur Existenz Israels abgegeben, sondern ausdrücklich zur Sicherheit Israels. Und genau diese Sicherheit wurde durch den 7. Oktober noch nie so stark infrage gestellt wie jetzt.

Und hier kommt der Streitpunkt. Manche vergleichen das mit Nazis, als habe man es mit Menschen zu tun, die nichts anderes im Sinn haben, als Juden zu töten. Und es lässt sich auch nicht bestreiten, dass es solche extremen Elemente tatsächlich gibt. Aber das ist nicht die Ursache des Konflikts. Der Konflikt liegt darin, dass den Palästinensern ihr Land genommen wurde und sie seit vielen Jahrzehnten entrechtet werden. In der Schoah gab es keine annähernd vergleichbare Situation, es gab keinen grundsätzlichen Konflikt zwischen nicht-jüdischen und jüdischen Deutschen.

Was folgt daraus? Wie könnte dem berechtigten Bedürfnis der israelischen Bevölkerung nach Sicherheit Rechnung getragen werden, ohne gleichzeitig palästinensische Stimmen aus dem Diskurs zu verbannen?

Daraus folgt, dass die Sicherheit Israels steht und fällt mit einer tragfähigen Perspektive auf eine gerechte Friedenslösung! Wie die aussehen könnte, weiß ich auch nicht genau. Aber wir müssten auf allen Kanälen, politisch, militärisch, kulturell und wirtschaftlich, darauf hinwirken, dass die Politik in Richtung einer Friedenslösung geht – und nicht in die entgegengesetzte Richtung. Ich verstehe nicht, warum das so schwer zu begreifen sein soll. Ich verstehe auch nicht, warum das hier in München, besonders bei den Entscheidungsträgern, bei städtischen Stellen wie der Fachstelle für Demokratie, einfach nicht durchdringt.

Welche Folgen hat das aus Ihrer Sicht?

Wir erleben doch mit offenen Augen, dass in einem erheblichen Teil der Bevölkerung – vor allem bei Menschen mit arabischem oder muslimischem Migrationshintergrund – ein Bewusstsein entsteht, das auf Frustration basiert. Ich höre immer öfter von Betroffenen: 'Ihr habt uns gesagt, hier gibt es Meinungsfreiheit, hier gelten Menschenwürde und Menschenrechte für alle gleichermaßen.' Sie erleben aber, dass ihre Positionen nicht genauso gelten wie die von anderen, und sie dürfen diese auch nicht frei äußern. Das ist eine Wahrnehmung, die – zumindest zum Teil – berechtigt ist. Natürlich gibt es auch Positionen, die ich nicht teile, die ich als haarsträubend empfinde. Aber gerade deshalb müssen wir das doch aufarbeiten und irgendwie in den Griff bekommen.

Wenn man aber Gespräche verbietet und in Schulen nicht zulässt, dass junge Menschen ihre Wut äußern dürfen, dann muss uns das doch zwangsläufig um die Ohren fliegen. Das ist keine Vermutung oder irgendeine düstere Vision – das ist zwingend logisch. Man baut damit Druck auf, der nirgendwo entweichen kann. Das weiß man bei der Stadt, in der Staatsregierung, bei den Kirchen, und trotzdem macht man damit immer weiter, seit über einem Jahr. Und genau an diesem Punkt versagt auch mein Verständnis – ich kann nicht nachvollziehen, warum das so ist und bin leider ratlos, was man da tun könnte.

"Ein Arzt kann doch auch keine Krankheit behandeln, indem er sagt, darüber reden wir nicht"

Sie haben es ja kürzlich versucht, mit einer geplanten Debatte in der Evangelischen Stadtakademie, bei der Sie mit dem palästinensischen Aktivisten Fuad Hamadan und Gady Gronich, Geschäftsführer der Europäischen Rabbinerkonferenz, diskutieren wollten. Diese wurde dann vom Stadtdekanat München abgesagt.

Die Debatte in der Stadtakademie war ein Versuch, diese Blockade zu durchbrechen – bewusst, indem man auch Positionen zur Sprache bringt, die nicht dem allgemeinen Konsens entsprechen, die zum Teil anstößig sein können und von vielen als antisemitisch eingestuft werden. Ich mag diese Positionen nicht, aber wir müssen uns doch damit auseinandersetzen! Man muss das doch behandeln. Ein Arzt kann doch auch keine Krankheit behandeln, indem er sagt, darüber reden wir nicht. Es geht doch darum, das Problem zu erkennen und zu besprechen, sonst finden wir keine Lösung. Diese Positionen werden ja ohnehin verbreitet – auf Demonstrationen, im Internet, überall -, aber eben ohne, dass wir aktiv darauf einwirken. Indem wir sie aus der öffentlichen Debatte ausgrenzen, lassen wir ihrer Verbreitung freien Lauf.

Wo ziehen Sie denn die Grenze – Antisemiten eine Bühne bieten wollen Sie sicherlich auch nicht, oder?

Wo genau die Grenze gezogen wird, ist in der Tat eine sehr schwierige Frage. Antisemitische Positionen sind nicht verhandelbar, da würde ich zustimmen. Aber das gilt dann, wenn Antisemitismus wirklich ernst genommen und richtig definiert wird – nämlich dann, wenn jüdische Menschen oder Institutionen oder Positionen, angegriffen werden, weil sie jüdisch sind. Da ist für mich die Grenze überschritten.

Aber wenn ein Palästinenser mit der Existenz des jüdischen Staates nicht einverstanden ist, halte ich das zwar für falsch, aber nicht per se für antisemitisch. Er lehnt den Staat ja nicht ab, weil er jüdisch ist, sondern weil er in dem Land, das er als das seine empfindet, gegründet wurde. Deshalb ist diese vorgegebene Gleichsetzung –die Existenz des Staates Israel zu kritisieren oder abzulehnen, sei automatisch antisemitisch – falsch, logisch wie historisch.

Es kommt allerdings oft vor, dass solche Positionen mit echtem Antisemitismus oder Judenhass kontaminiert werden. Genau da ist es wichtig, zu differenzieren: Was ist wirklich problematisch, und was ist vielleicht fragwürdig, aber dennoch eine legitime Position? Der Konflikt hat zwei Seiten, und wir kommen nur weiter, wenn wir beide Seiten zu Wort kommen lassen – auch wenn uns manche Ansichten nicht gefallen. Die Grenze ist da erreicht, wo es gegen Juden geht, weil sie Juden sind. Da würde ich auch eine Diskussion abbrechen oder sagen: 'Mit so jemandem unterhalte ich mich nicht.' Aber das sehe ich bei Herrn Hamdan nicht, er hat auch jüdische Freunde.

"Ein großer Teil unserer Jugend erlebt das so, und das heizt die Frustration nur weiter an"

Mal andersherum gefragt: Was hätte München von einer offeneren Debatte denn zu gewinnen?

Zum einen hätte man dem israelischen, jüdischen Diskutanten, Herrn Gronich, die Chance gegeben, die ihm so wichtig gewesen wäre – nämlich diesen Positionen öffentlich zu widersprechen. Das ist doch genau der Punkt, um den es ihm geht. Ich hatte die Hoffnung, dass dies vielleicht ein Anfang sein könnte – eine Debatte, die sich dann auch weiterentwickelt und bei der diese Positionen hinterfragt und widerlegt werden können.

Zum anderen hätte man damit einem erheblichen Teil der Bevölkerung, der vor Wut kocht – was ich verstehen kann, wenn man die Bilder aus Gaza oder dem Libanon sieht, die in den Medien weltweit gezeigt werden, in Deutschland allerdings deutlich zurückhaltender – die Möglichkeit gegeben, sich gehört zu fühlen. Wenn man das alles sieht, was dort jeden Tag passiert, versagen oft sowohl das rationale Denken als auch die Vernunft und Ausgewogenheit. Und dennoch wird den Leuten vermittelt: 'Ihr dürft darüber nicht sprechen, das ist antisemitisch.' Ein großer Teil unserer Jugend erlebt das so, und das heizt die Frustration nur weiter an. Wir sind damit sehenden Auges dabei, einen Teil unserer vor allem jungen Generation zu verlieren!

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