Ein großes Licht (Jes 9, 1-6)

Kein Abend im ganzen Jahr ist wie dieser. Wer jetzt noch unterwegs ist, sehnt sich danach, anzukommen. Wer im Stau steht, hofft, dass es endlich weitergeht. Wer noch geräumt und geschafft hat, freut sich auf ein bißchen Ruhe. Die Kirchen sind voll wie sonst das ganze Jahr nicht – und auch die, die zuhause geblieben sind, spüren: das ist kein Abend wie jeder andere. Voller Sehnsucht ist dieser Weihnachtsabend. Sehnsucht nach Wärme und Licht. Sehnsucht nach Zusammensein oder Sehnsucht, für einen Moment keine Schmerzen zu spüren, keine Sorgen zu haben, keine schlechten Nachrichten zu hören. Sehnsucht nach Frieden an den friedlosen Orten der Welt und in der eigenen Familie.

Mitten in diese Sehnsucht hinein spricht der Prophet Jesaja uralte Worte, prophetische Poesie:

Das Volk, das im Finstern wandelt, sieht ein großes Licht und über denen, die da wohnen im finstern Lande, scheint es hell.

Ein Licht im Dunkeln, das den Weg weist. Eine Art Sonnenaufgang, damit das Land nicht mehr so finster ist. Ein Leuchten am Horizont, das einem zeigt: es wird nicht für immer finster bleiben in diesem finsteren Land.

Du weckst lauten Jubel, du machst groß die Freude. Vor dir freut man sich, wie man sich freut in der Ernte, wie man fröhlich ist, wenn man Beute austeilt.

Jesaja läßt ahnen, dass es Momente gibt, in denen Gott selbst die Stimmen löst und das Schweigen beendet, die Anspannung abfallen läßt und die Angst, mal wieder zu kurz zu kommen. Er ist getrieben von Sehnsucht nach einer guten Zukunft für seine Zeitgenossen. In der Dunkelheit läßt er Bilder entstehen, Traumbilder voller Licht. Sie haben nichts von ihrer Strahlkraft eingebüßt über die Jahrhunderte. Im Gegenteil: sie steigern die Sehnsucht ins Unermessliche.

Denn Du hast ihr drückendes Joch, die Jochstange auf ihrer Schulter und den Stecken ihres Treibers zerbrochen wie am Tage Midians. Denn jeder Stiefel, der mit Gedröhn dahergeht, und jeder Mantel, der durch Blut geschleift wird, wird verbrannt und vom Feuer verzehrt.

Denn uns ist ein Kind geboren, ein Sohn ist uns gegeben und die Herrschaft ist auf seiner Schulter; und er heißt Wunder-Rat, Gott-Held, Ewig-Vater, Friede-Fürst; auf daß seine Herrschaft groß werde und des Friedens kein Ende auf dem Thron Davids und in seinem Königreich, dass er’s stärke und stütze durch Recht und Gerechtigkeit von nun an bis in Ewigkeit.

Fesseln werden gesprengt, der Antreiber wird verjagt, Befreiung geschieht. Nie mehr wird Unrecht sein. Gewalt ist besiegt. Freude wird laut. Diese Nacht, so sagt er, diese Nacht ist anders als alle Nächte. Diese Nacht birgt ein Geheimnis. In der Nacht ist ein Kind zur Welt gekommen. Das Kind wird zum Licht für die, die nach ihm suchen und es trägt Namen, in denen Gottes Gegenwart aufstrahlt und weit hinausleuchtet über den dunklen Horizont:

Denn uns ist ein Kind geboren, ein Sohn ist uns gegeben und die Herrschaft ist auf seiner Schulter; und er heißt Wunder-Rat, Gott-Held, Ewig-Vater, Friede-Fürst.

Jeder dieser Namen wird dem Neugeborenen schon jetzt wie ein Königsmantel um die Schultern gelegt. Gehüllt in diesen Mantel wird er tun, was Gott selbst Israel versprochen hat, wird wunderbare, erstaunliche Dinge planen und ausführen.

Denn uns ist ein Kind geboren. Ich höre diesen Satz, wie Jesaja selbst ihn gehört haben mag: als eine historische Nachricht. Irgendwann um das Jahr 730 wird ein Königskind geboren in Jerusalem, ein Thronfolger für Israels Königshaus, das mit David begonnen hat. Dieses Kind wird für Jesaja zum Zeichen. Israel wird nicht ewig unter fremden Herrschern leiden, sagt er seinen Zeitgenossen. Dieses Kind ist der lebendige Beweis dafür, dass der Bund zwischen Gott und dem Davidshaus Bestand hat. Mit dieser Nachricht verknüpft Jesaja alle Hoffnungen, die er für die friedlose Welt hat, in der er lebt. Er spricht zu seinem Volk Israel, zu besiegten, gescheiterten, perspektivlosen Menschen. Eingehüllt in den "Trauermantel der Nacht" (Nelly Sachs) sind ihre Lebensjahre vergangen. Wie lange noch? Muß das ewig so weitergehen?

Nein, sagt Jesaja. Die Kraft Gottes wird in diesem Kind sichtbar. Richtigen Frieden wird er bringen, Frieden, der nicht am nächsten Tag schon wieder im politischen Streit zerbröselt, sondern der Bestand hat. Erinnert Euch an Midian, sagt Jesaja. Da hat Gott kurzen Prozeß gemacht mit hochgerüsteten Gegnern auf dem Schlachtfeld. Da hat er ein paar hundert Israeliten mit List die mächtigen Midianiter besiegen lassen und Tausende, die von ihren kriegsbereiten Anführern in die Schlacht gejagt worden wären, hat er davor bewahrt in unnötigen Kämpfen zerrieben zu werden. Ja, man darf sich auf einmal wieder vorstellen, wie alles, was einen bedroht und ängstigt, was Tod bringt, jeder lederne Militärstiefel und jede lederne Aktentasche mit dem Atomcode, die einem amerikanischen Präsidenten hinterhergetragen wird, dass jeder Soldatenmantel und jeder Soldatenjeep Müll ist und Schrott am Straßenrand und zu Staub und Asche zerfällt.

Ach, könnte unsere Sehnsucht, die in dieser Nacht wach wird, wenigstens einmal den Mund so voll nehmen, wie Jesaja es hier getan hat. Könnte sie einmal wirklich glauben, dass Gott eingreift und Schlachten beendet oder wenigstens die Egos der größenwahnsinnigen Machthaber im Westen und im Osten zügelt.

Das Volk, das im Finstern wandelt, sieht ein großes Licht und über denen, die da wohnen im finstern Lande, scheint es hell.

Jahrhunderte später haben Menschen diese Nachricht mit einem anderen Kind verbunden. In dieser Nacht, so hören sie, ist ein Kind zur Welt gekommen in Bethlehem. Es liegt in einer Krippe, über der ein Stern strahlt. Das Kind wird zum Licht für die, die nach ihm suchen, für Hirten und für Könige und für alle, die sich nach Frieden und Heil sehnen. Und Engel singen vom Kind als wüßten sie alle seine alten Namen:

"Fürchtet euch nicht, siehe ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird, denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr in der Stadt Davids….".

Wie werden Sie denn Weihnachten feiern, frage ich manche, die in diesen Tagen zu mir kommen. Und ein junge Frau, die schwer krank ist und wenig Grund zum Feiern hat, antwortet: "Also in die Kirche gehe ich nicht, das bedeutet mir alles nicht mehr viel … aber, überlegt sie laut, da ist doch ein Kind geboren, und das, das kann man doch eigentlich schon feiern…" Und dann schaut sie mich an und sagt: "Eigentlich könnte man da doch das ganze Jahr über Weihnachten feiern…"

Ja, man könnte das ganze Jahr über Weihnachten feiern, denn auf jedem Kind liegt der Glanz des Versprechens, dass Liebe möglich ist. In jedem Kind leuchtet etwas auf vom großen Licht Gottes. Seit der Geburt des göttlichen Kindes können wir das so sehen. Seitdem können wir die Propheten so verstehen, wenn sie davon reden, dass ein Kind ein Licht im Dunkeln ist für alle Welt. Dieses Kind wird zum Zeichen dafür, dass Gott seine Kinder überall sucht und findet. Bei den niedrigen Leuten und bei denen, die mit kleinen Leuten Umgang pflegen. Bei denen, die morgen nicht wissen, wo sie unterkommen, und die froh sind, ein zugiges Zelt oder eine blaue Plastikplane zu haben. Bei den Armen, bei denen, die Angst auf die Flucht treibt und bei denen, die versuchen, ihr Leben Tag für Tag irgendwie zu bestehen, mit ihren Krankheiten, mit ihren Konflikten.

Die Nacht vom 21.Oktober 1921 ist für Rosie Mackay anders als andere Nächte. In dieser Nacht kommt ihr fünftes Kind zur Welt. George nennt sie es und Mackay, das ist der Name ihrer Eltern und Brown, weil das der Name seines Vaters ist. George Mackay Brown - 1921 geboren und 1996 gestorben, hat sein Leben lang nicht viel vom Licht gesehen. Auf Orkney hat er gelebt, einer Insel ganz oben im Norden Schottlands, wo es lange dunkel ist. Depressionen haben ihm zugesetzt und schwere Krankheiten ihn geplagt. Durch Sozialhilfe und die Unterstützung von ein paar Freunden hat er ein kümmerliches Auskommen gehabt. Er hat Gedichte geschrieben, Zeitungsartikel, ein paar Bücher und Theaterstücke. Manche sagen, er sei der größte schottische Dichter des 20.Jahrhunderts gewesen. Er war kein frommer Mann und keiner, der oft in die Kirche gegangen ist. Manchmal hat er sich zurückgeträumt in den mittelalterlichen Glauben seiner Vorfahren. Meistens aber hat er zu kämpfen gehabt mit seinem Glauben und seinem Leben. "Wie der biblische Urvater Jakob, der in seinem Kampf mit dem Engel verwundet worden ist, muß der ganz unheilige George Mackay Brown sich hinkend auf den Weg zum Reich Gottes machen", hat einer mal über ihn geschrieben. Und doch sieht er auf diesem Weg das Licht - mitten in der Dunkelheit. Lux Perpetua, Ewiges Licht, ist der Titel eines seiner schönsten und kürzesten Gedichte. Es lautet:

A star for a cradle

Sun for plough and net

A fire for old stories

A candle for the dead.

Lux perpetua

By such glimmers we seek you

 

Ein Stern für die Wiege

Sonne für Pflug und Netz

Ein Feuer für alte Geschichten

Eine Kerze für die Toten

Lux perpetua

Bei solchem Licht suchen wir dich.

George Mackay Brown hilft mir, das große Licht in den ganz kleinen irdischen Momenten zu entdecken. Wenn über jeder Wiege ein Stern steht, dann bekommt man eine Ahnung davon, dass in jedem neugeborenen Kind etwas sichtbar wird von der Hoffnung, dass Gott seine Menschen nicht aufgibt. Wenn über jeder Wiege ein Stern steht, dann ist es nicht gleichgültig, wie und wo Kinder geboren werden und unter welchen Umständen sie aufwachsen. Wenn über jeder Wiege ein Stern steht, dann brauchen Familien Schutz und Stabilität und dann sollen die, die als Familie einander diesen Schutz geben wollen, zusammenleben können ohne Angst. Wenn über jeder Wiege ein Stern steht, dann sollen Väter, die aus dem Krieg in Syrien nach Deutschland geflogen sind, ihre Kinder nicht nur auf dem Smartphone sehen und Kinder ihre Väter nur vom Hörensagen kennen. Sie sollen zusammenfinden und mit leuchtenden Augen einander anschauen können.

Sonne für Pflug und Netz. George Mackay Brown weiß, dass Gott seine Sonne aufgehen läßt über unserer ganz alltäglichen Arbeit, überm Pflügen und Fischen, reden und zuhören, über allem, was wir mit unseren Händen tun, über allem, wozu unsere Kräfte gerade noch reichen und über dem, wozu wir Hilfe brauchen. Auch über allem, was wir nicht mehr tun können. Alle, die unter dieser Sonne arbeiten, arbeiten mit am Pulsschlag der Erde, an Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht. Gott hat versprochen, dass dieser Pulsschlag nicht aufhören soll, solange die Erde steht. Gemeinsam arbeiten unter dieser Sonne – das ist eine Verheißung und eine Herausforderung für eine Gesellschaft, in der sich so viele kaputtarbeiten, weil die Arbeit einfach nicht weniger wird. In der so viele mitarbeiten könnten, wenn wir ihnen nur die Zeit und die Chance dazu geben würden.

Und dann sind da die uralten Geschichten. Früher sind Menschen nachts an Lagerfeuern gesessen. Sie haben sich weitererzählt, was sie erlebt haben von Wundern und von Rettung. Von dem, was sie sich nicht erklären konnten und von dem, was ihnen Angst gemacht hat. Das Feuer wärmt – und die Geschichten wärmen. Und am meisten wärmt, wenn wir einander weitererzählen können, was uns Mut macht. Wir brauchen solche Erzählungen. Wir können unsere kleinen Hoffnungen nicht alleine aufrechterhalten. Wir müssen davon so reden, als wären sie schon eingetreten. Wir erzählen einander, was mitten in der Nacht passiert, woran wir glauben und was uns Mut macht. Und manchmal reicht sogar das kleine Leuchten einer Whatsapp, durch die ich erfahre, dass eine Freundin gerade in dem Moment an mich denkt, wenn ich vor einer blöden Prüfung stehe oder ein Arzttermin mir Angst macht. Ein Feuer für die alten Geschichten… vielleicht ist ja auch heute am Weihnachtsabend dafür Zeit: dass die, die da zusammensitzen, einander erzählen von dem, was Licht bedeutet für sie und was sie bis heute wärmt.

Ein Stern für die Wiege

Sonne für Pflug und Netz

Ein Feuer für alte Geschichten

Eine Kerze für die Toten

Ja, auch sie sind mit dabei in dieser Nacht. Die, die sonst immer da waren und in diesem Jahr gestorben sind. Die, die wir schon so lange vermissen und deren Stimmen wir immer noch hören. Ich kenne eine Frau, die jedes Jahr am Weihnachtsabend Kerzen anzündet und ins Fenster stellt – eine Kerze für jeden Menschen, der ihr gerade heute fehlt. Manche leben noch und sind einfach nur weit weg, andere sind schon gestorben. Eine Kerze für die Toten... Ja, denn auch sie haben Spuren hinterlassen in meinem Leben, Lichtspuren, Wärmespuren – und ihre Namen leuchten immer noch.

Das große Licht, nach dem wir uns sehnen solange wir leben, leuchtet in all diesen kleinen Lichtern. So sind wir heute hier, jeder für sich ganz alleine und zusammen mit den Menschen, die mit mir auf dem Weg sind, die, die mir ganz nah sind – und die, die ich fremd oder befremdlich finde. So gehören wir zu diesem Volk, das im Finstern wandelt und ein Licht sieht in dieser Nacht und eine Ahnung davon bekommt, dass es hell scheint auch über denen, die im finstern Land wohnen.

Morgenfeier von Pfarrerin Barbara Hauck

Quelle: George Mackay Brown, Staubkorn vom Boden des Himmels, Babel Verlag Denklingen 2001, S.80f , übers. von Kevin Perryman