Eine junge Koreanerin widmet sich der Aneignung der altgriechischen Sprache. Dahinter steckt jedoch weder ein Interesse an klassischer Philosophie noch der Wunsch, Homers Dichtung im Original zu lesen. Die junge Frau, der die Schriftstellerin Han Kang, soeben mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet, keinen Namen gibt, ist von einer anderen Herausforderung betroffen: Seit kurzem ist sie stumm, hat ihre Fähigkeit zu sprechen verloren.
Der genaue Grund dafür bleibt im Dunkeln, allerdings hat sie kürzlich erst das Sorgerecht für ihren Sohn verloren. Der Griechischlehrer indes, ebenfalls ohne Namen, sieht sich mit einer anderen Herausforderung konfrontiert: Er erblindet zunehmend.
Beide Charaktere haben ihre Sinne verloren oder stehen kurz davor, sie zu verlieren. Beide sind gezwungen, sich in der südkoreanischen Hauptstadt Seoul zu orientieren, wobei sie ihre verbleibenden Sinne – Gehör und Geruch – besonders stark nutzen.
Der Mann durchlebt erneut die prägenden Ereignisse seiner frühen Kindheit in Deutschland, wohin seine Familie bereits zu einem sehr frühen Zeitpunkt in seinem Leben übersiedelte. Mittlerweile lebt er wieder in Korea.
Die Frau hingegen wählt einen konträren Ansatz, indem sie den Versuch unternimmt, sich von ihren Erinnerungen abzuschotten. Stattdessen wählt sie den Griechischunterricht als Mittel, um einen Zugang zu ihrer Vergangenheit zu finden, da diese tote Sprache eine große Distanz zu ihrer eigenen aufweist.
Elegant und poetisch
Han Kang (Han ist nebenbei bemerkt der Familienname der Schriftstellerin) erzählt in ihrem Roman "Griechischstunden" (2011, übersetzt ins Deutsche von Ki-Hyang Lee 2024) die Annäherung zweier Menschen, die im Verlauf des Romans ihre Schmerzen zunehmend gemeinsam erkunden.
Die Sprache des Romans ist, soweit dies aus der Übersetzung ersichtlich wird, von einer herausragend eleganten und poetischen Qualität. Die Autorin arbeitet mit einer sprachlichen Darstellungsform, die es ihr ermöglicht, existenzielle Fragen zu thematisieren, ohne dabei in eine trockene oder gar düstere Atmosphäre abzudriften. Gleichzeitig ist das Werk so intensiv geschrieben, dass es manchmal geradezu brutal erscheint.
Dabei gibt es in "Griechischstunden" relativ wenig äußere Handlung. Das meiste spielt sich im Bewusstsein der beiden Protagonist*innen ab. Es besteht auch durchaus die Möglichkeit, das Buch so zu lesen, dass sein eigentlicher Fokus weder auf den beiden Charakteren noch auf ihrer individuellen Geschichte liegt. Schließlich werden beide Charaktere nicht ohne Grund namenlos gelassen. Detailliert und feinsinnig beleuchtet der Roman eine Begegnung zwischen zwei Menschen, die sich jenseits von verbaler Kommunikation und gegenseitigem Erkennen durch Sehen vollzieht. Ein Sieg der leisen Schönheit über die Angst.
"Griechischstunden" ist ein komplexes, vielschichtiges Werk, das Leser*innen die Möglichkeit einräumt, über Grundfragen des Lebens nachzudenken – ohne dabei auch nur die kleinsten Abstriche in Sachen Poetik und Sprachschönheit zu machen. Es bietet ein atemberaubendes Lesevergnügen, das jedoch viel eigene Reflexion und Interpretation erfordert.
Han Kang, Griechischstunden. 2024 Aufbau Verlag. 204 Seiten, 23 Euro.
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