Es ist das Dokument einer ganz besonderen Freundschaft: 600 Briefe haben sich Astrid Lindgren (1907-2002) und die Berlinerin Louise Hartung (1905-1965) geschrieben. Unter dem Titel "Ich habe auch gelebt!" haben Jens Andersen und Jette Glargaard nun eine Auswahl der Korrespondenz aus elf Jahren veröffentlicht.

Der Briefwechsel spiegelt die Nachkriegsgeschichte wider, ist eine kulturelle und philosophische Tour d'Horizon - und voller Gefühle: Louise Hartung verliebte sich in Astrid Lindgren, die Liebe blieb unerfüllt. Die Briefe zeigen Astrid Lindgren auch als eine Frau, die Trost braucht und die der Rummel um ihre Person belastet hat.

Ohne das "stärkste Mädchen der Welt", Pippi Langstrumpf, hätten sich Lindgren und Hartung, eine Sozialdemokratin aus dem Berliner Hauptjugendamt, 1953 kaum näher kennengelernt. Ein Arbeitsschwerpunkt der Behörde resultierte aus der Frage: "Wie entnazifiziert man eine Jugend, die mit Hitler als Vaterfigur aufgewachsen ist?"

Das beste Buch der Welt

Die vom Krieg traumatisierten Kinder brauchten gute Literatur, fand Hartung. Sie hielt "Pippi Langstrumpf" für das beste Buch der Welt und lud deshalb Astrid Lindgren nach Berlin ein. Die Autorin hielt einen Vortrag vor Buchhändlern und Bibliothekaren und stellte ihr Werk vor.

Astrid Lindgren wollte mit eigenen Augen sehen, was der Krieg angerichtet hatte. Spontan bot Louise Hartung an, ihr die zerbombten Viertel im Ostsektor der Stadt zu zeigen. Der Besuch hinterlässt bei beiden Spuren.

Lindgrens Dankesbrief später aus Stockholm beginnt mit den Worten: "Liebe, liebe süße Frau Hartung! Sie sind also ein Erlebnis für Ihre Umgebung." Es ist der Anfang eines Dialogs, der immer persönlicher wird. Zu den Briefen kommen Besuche und gemeinsame Reisen.

Sie siezen sich bis August 1954, als Hartung Lindgrens Gast im Sommerhaus auf Furusund in den Schären nördlich von Stockholm ist. "Ich habe dich unaussprechlich lieb", schreibt die Berlinerin nach dieser Begegnung. Doch Hartungs Liebe wird nicht erwidert. Die Antwort der Schwedin - "wir wollen gute Freunde bleiben" - kann sie erst viel später akzeptieren.

Die Frauen bleiben Freundinnen

Die abenteuerliche Autofahrerin Hartung mit ihrem Karmann Ghia und die vorsichtige Fahranfängerin Lindgren mit ihrem Volvo. Astrid Lindgren schätzt Louises ansteckenden Enthusiasmus, ihren Wortwitz und Scharfsinn, die Belesenheit. Sie nimmt dieses Energiebündel auch als Kritikerin der 13 Bücher ernst, die sie in den elf Jahren der Freundschaft schreibt.

Sensibel und direkt, nachdenklich und humorvoll: Zeile um Zeile wächst Vertrauen zwischen den Frauen. "Dein Brief hat mir gut getan", erklärt Astrid Lindgren und bittet häufiger: "Ich brauche viele Worte des Trostes von dir." Das gilt gerade in all den Momenten, in denen sie bekennt: "Bin so bis in die Zehenspitzen deprimiert."

Da hat Louise Hartung schon längst verstanden, dass ihre Freundin unter dem Rummel um ihre Person leidet. Am wohlsten fühlt sie sich, wenn sie ein Buch schreiben darf - weil sie dann die Kindheit spürt, die einzige Zeit, die sie als glücklich empfunden hat.

"Warum lebe ich?"

Mehr als einmal stellt die Schriftstellerin die Frage. Hartung antwortet darauf: "Vielleicht leben wir, um einander Freude zu machen, aber wir wissen es bloß nicht und tun es infolgedessen auch nicht."

Dass der Briefwechsel bewahrt wurde, ist dem Astrid-Lindgren-Archiv der Königlichen Bibliothek in Stockholm zu verdanken. Louise Hartung hatte verfügt, die Briefe der Schwedin nach ihrem Tod an Astrid Lindgrens Adresse zu senden.

Für die schwedische Literaturwissenschaftlerin Lena Törnqvist vertieft die neue Korrespondenz das Bild von Astrid Lindgren. Törnqvist hat das Katalogisieren des Archiv-Materials verantwortet. Vergleichbar umfangreiche Publikationen aus Lindgrens Feder seien jetzt allerdings nicht mehr zu erwarten. "Es gibt auch keine unveröffentlichten Buchmanuskripte", sagt Törnqvist, "aber noch viele interessante Einzelbriefe" unter den 75.000 Schreiben von Bewunderern.

Annäherung per Brief

Nach und nach erfährt Astrid Lindgren Persönliches aus dem Leben Hartungs, die aus Münster stammte. Ihre Mutter war bei der Geburt gestorben, mit vier Jahren brachte sie sich das Lesen selbst bei, mit Hilfe einer schweren Familienbibel.

Insgesamt 16 Berufe und 25 Jahre Studium, darunter Verwaltungswissenschaften, zählt Hartung später auf. Sie war auch Sängerin und Wegbegleiterin der Kulturszene um Kurt Weill und Lotte Lenya, trat im Ausland auf. Sie arbeitete im Widerstand gegen das NS-Regime und versteckte jüdische Freunde.

Drei Tage vor Weihnachten 1964 sehen sich die Freundinnen zum letzten Mal. Astrid Lindgren fliegt nach Berlin, um die krebskranke Louise im Krankenhaus zu besuchen. Am 24. Februar 1965 schreibt Lindgren in ihr Tagebuch: "Trauere um Louise."

BUCHTIPP

Jens Andersen, Jette Glar­gaard (Hg.): Astrid Lindgren, ­Louise Hartung: Ich habe auch gelebt! Ullstein, 592 Seiten, ISBN 978-3-550-08176-7, 20,99 Euro.