Die kleine Schere schiebt sich lautlos durch das schwarze Papier. Auf dem Tisch kräuseln sich schwarze Papierstreifen. Konzentriert blickt Hildegard Bräu auf das Blatt in ihrer Hand und schnippelt weiter an dem fragilen Gebilde. Die 83-Jährige beäugt kritisch ihr Werk, dann legt sie den fertigen Scherenschnitt auf ein weißes Blatt. Das filigrane Blumenmotiv ist für den Fastenkalender der evangelischen Kirchengemeinde von Poing. In wenigen Tagen wird der Kalender ausgeliefert. Der Erlös aus dem Verkauf geht komplett an die Gemeinde.

Fastenkalender für Poing

Ehrenamt bedeutet Engagement, findet Hildegard Bräu. Seit 29 Jahren schnippelt sie die zarten Gebilde für den Fastenkalender - Feldblumen, Märchenszenen oder Heilpflanzen. Etliche tausend Euro sind mit dem Verkauf zusammengekommen, keinen einzigen Cent davon hat die Künstlerin behalten. "Ich habe alles, was ich brauche, und wollte etwas Gutes tun", sagt Bräu. Die gepflegte Dame ist eine von über 140.000 Ehrenamtlichen, die sich in der bayerischen evangelischen Landeskirche engagieren.

Hildegard Bräu stammt aus dem oberfränkischen Hof und bastelte schon als Kind mit allem, was sie in die Hände bekam. "Es war Krieg, da gab es nicht viel", erinnert sie sich. Während ihr Vater am Güterbahnhof die Züge rangierte und die Mutter in der Munitionsfabrik arbeitete, klebte die kleine Hildegard ihre Bilder mit Gräsern und Blumen, flocht Kränze oder zertrümmerte alte Kacheln, um daraus ein Mosaik zu kleben.

Schon als Kind hat Hildegard Bräu gebastelt

Als Lazarettstadt blieb Hof zunächst von Bombenangriffen verschont. Kurz vor Kriegsende kam es dann aber heftig: "Mein Vater musste zum Bahnhof, uns schickte er in die Bierkeller", erinnert sich Bräu. Später zählte Hof zum amerikanischen Sektor, die Verwandten im benachbarten Sonneberg gehörten zum sowjetischen Sektor und waren damit kaum erreichbar. Die Eltern schickten Hildegard Bräu für zwei Jahre in ein Internat nach Neuendettelsau.

Fünf Jahre arbeitete Bräu als Kinderpflegerin, dann folgte sie ihrem Ehemann nach Poing im Landkreis Ebersberg. "Eine harte Umstellung, wir waren so ziemlich die einzigen Evangelischen in einem sehr katholischen Umfeld", sagt Bräu. Die ersten Gottesdienste feierten sie in einer Schulklasse und quetschten sich hinter Holzbänke mit eingelassenem Tintenfass, später wurde eine hölzerne Notkirche errichtet, "da waren wir schon selig, endlich einen eigenen Raum zu haben", so Bräu.

Hildegard Bräu und ihr Fastenkalender
Hildegard Bräu und ihr Fastenkalender
Scherenschnitt für Fastenkalender
Scherenschnitt für Fastenkalender
Scherenschnitt für Fastenkalender
Aquarell mit Pusteblume von Hildegard Bräu.
Aquarell mit Pusteblume von Hildegard Bräu.

Ehrenamtliche im kirchlichen Bereich, so ergab eine Studie der Evangelischen Fachhochschule Nürnberg im Jahr 2008, engagieren sich, weil sie ihre Zeit sinnvoll gestalten wollen und gesellschaftliche Verantwortung übernehmen möchten. So auch Hildegard Bräu: Während der Mann arbeitete, gründete sie einen Kinderkreis nach dem anderen und packte in der Gemeinde überall da an, wo es etwas zu tun gab: bastelte die Kränze für den Weihnachtsmarkt, dekorierte beim Gemeindefest, organisierte eine Gitarren- und Flötengruppe, schrieb Märchenspiele, nähte und stickte, malte hunderte Aquarelle, die sie ebenfalls für einen guten Zweck verkaufte - und fertigte Scherenschnitte.

Engagierte Ehrenamtliche in der Gemeinde

Die Kunst half Hildegard Bräu, den Schock und die Trauer um ihren früh verstorbenen Mann zu überwinden. "Damals beauftragte mich Pfarrer Friedrich Eras von der Gemeinde Markt Schwaben, Scherenschnitte für einen Fastenkalender zu machen, das hat mich beschäftigt", erinnert sie sich. Jeder Kalender widmete sich einer berühmten Persönlichkeit, mal war es Hildegard von Bingen, dann Albert Schweitzer, in diesem Jahr zieren die Blätter Sprüche des schwedischen Friedensnobelpreisträgers, Erzbischof Nathan Söderblom. Anfangs wurde der Kalender in einer Auflage von 3.000 Stück gedruckt, später waren es über 5.000 Exemplare. Etliche tausende Euro kamen so zusammen, jeder Cent wurde gespendet.

Hunderte Scherenschnitte entstanden

Einen 30. Fastenkalender wird es nicht mehr geben, hat die Gemeinde beschlossen. Hildegard Bräu nimmt es gelassen hin. Einmal noch möchte sie die gesammelten Werke ausstellen, die vielen hundert Scherenschnitte, die Blumenaquarelle und Landschaftsbilder, und noch einmal Spendengelder sammeln. Aber dann ist auch genug. "Alles verändert sich", sagt Bräu, und deutet aus ihrem Fenster: Wo früher noch Felder waren, steht heute der Kirchenbau der Poinger Gemeinde, die inzwischen rund 2.600 Mitglieder zählt. Und die Kinder, um die sich Hildegard Bräu jahrelang in Markt Schwaben gekümmert hat, sind längst Erwachsen geworden.

Am Aschermittwoch beginnt die Fastenzeit, in der viele Christen auf bestimmte Lebensmittel oder schlechte Angewohnheiten verzichten. Wer fastet und warum?  Lesen Sie in unserem Dossier mehr zum Thema Fastenzeit: www.sonntagsblatt.de/Fastenzeit

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