Vor ein paar Wochen ist meine beste Freundin bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen. Das ist schon sehr schlimm. Und ich muss jeden Tag früh und abends mit dem Zug zur Arbeit an genau der Stelle vorbeifahren, wo es passiert es. Natürlich sieht man nichts mehr, und keiner weiß es, aber ich weiß es, und es ist jedes Mal furchtbar.

Ich habe aber auch sonst in meiner Familie das Gefühl, dass keiner das ernst nimmt. Ich überlege dauernd, ob ich eine andere Strecke fahren oder das Auto nehmen kann. Das ist natürlich alles viel umständlicher, ich müsste früher von zu Hause los, aber vielleicht sollte ich es mal machen. Oder gibt es andere Möglichkeiten? Manchmal möchte ich am liebsten überhaupt nicht mehr zur Arbeit fahren.

Frau T. (29)

Was können Sie tun? Auf jeden Fall mal die Gefühle ernst nehmen, die sich da jeden Tag melden, wenn Sie im Zug an der Unfallstelle vorbeifahren. Die Mitfahrenden im Zug sehen es nicht und merken es nicht – aber Sie wissen, was da geschehen ist. Was bedeutet es, diese traurige Seite, die sich in Ihnen zu Wort meldet, ernst zu nehmen? Vielleicht braucht dieser traurige Teil Ihrer selbst für ein paar Wochen oder Tage einen Umweg, ein bisschen Abstand, der das frühere Aufstehen wert ist? Nicht um sich vorzumachen, dass alles in Ordnung ist – aus den Augen, aus dem Sinn; zärtliche Aufmerksamkeit, das braucht Ihre Trauer jetzt. Und Raum. Vielleicht so, dass Sie morgens, wenn Sie in den Zug steigen, zu Ihrer Trauer sagen: Ja, ich weiß schon, du wirst dich wieder melden.

Vielleicht könnten Sie sich dann, wenn Sie an der Unglücksstelle vorbeifahren, vorstellen, wie Sie dort eine Blume hinlegen oder – in Gedanken – eine Kerzen anzünden? Jedes Mal, wenn die traurige Seite in Ihnen Sie wissen lässt: Da ist es wieder, jetzt fahren wir da wieder vorbei … – Jedes Mal lassen Sie in Gedanken dort ein kleines Zeichen Ihrer Trauer zurück. Das bedeutet, dass Sie in Gedanken etwas tun können – und dem, was da geschehen ist, nicht nur so ausgeliefert sind.

Und auch da könnten Sie sorgfältig und liebevoll beobachten, wie und ob das traurige Gefühl und der Schmerz sich allmählich ein wenig verändert. Es kann sein, dass Sie irgendwann erleben, dass Sie gerade an der Stelle vorbeigefahren sind – und es gar nicht gemerkt haben, weil Sie für einen Moment mit Ihren Gedanken woanders waren.

Aber eigentlich geht es ja nicht ums Zugfahren. Es geht darum, ob und wie und wann dieses unfassbare Ereignis, das Ihnen Ihre beste Freundin genommen hat, ein "erträglicher", er-tragbarer Teil Ihrer Geschichte wird. Im Moment ist das noch nicht möglich. Hilfreich ist es da, mit jemand zu reden, dem Sie vertrauen, aber auch mit der inneren Seite von Ihnen, die so erschüttert ist, dass sie manchmal am liebsten überhaupt nicht mehr zur Arbeit fahren möchte. Es geht darum, Worte zu finden und die verschiedenen Möglichkeiten, die Sie haben, hin- und herzuwenden, dabei den Schmerz ernst zu nehmen und langsam kleine Schritte zu entdecken, die Ihnen ganz allmählich wieder ein wenig Abstand ermöglichen zu dem, was da geschehen ist.