Ruzanna Injigulyan gehört zu den regelmäßigen Teilnehmerinnen. Die 53-jährige Ökonomin aus Armenien näht leidenschaftlich gern. Nach der Arbeit saß sie damals, in friedlicheren Zeiten, zu Hause oft an der Maschine, um Kleider für die Enkelin zu fertigen. Das tat sie immer alleine. Denn auch in Armenien ist es heute nicht mehr üblich, sich Kleidung selbst zu nähen.

Armenien ist, wie so viele andere Nationen, kein friedliches Land. Erst vor wenigen Monaten kam es wieder zu Kämpfen in Bergkarabach. Seit Anfang der 1990er-Jahre streiten Armenien und Aserbaidschan um dieses Südkaukasus-Gebiet. Im vergangenen Jahr flohen über 4700 Armenier aus ihrem krisengeschüttelten Heimatland.

Augenmaß an der Enkelin

Ruzanna Injigulyan kam vor fünf Monaten nach Deutschland. Wie so viele andere Flüchtlinge floh sie mit leichtem Gepäck. Die Nähmaschine blieb daheim: »Die wäre viel zu schwer gewesen.« Umso schöner ist es für sie, dass sie an jedem Dienstag nach ihrem Deutschkurs ins Gemeindehaus der Erlöserkirche kommen kann, um zusammen mit anderen Frauen zu nähen.

Anette Romeis ist es zu verdanken, dass es den Nähtreff gibt. Vor einem Jahr erfuhr sie von einem Vorhaben, aus gespendeten Stoffen Decken für Flüchtlinge zu nähen. Sie fand die Sache gut, dachte jedoch weiter. Warum sollten deutsche Frauen Flüchtlingsfrauen beschenken? Wäre es nicht sinnvoller, gemeinsam zu nähen?

Die Idee stieß auf offene Ohren. »Viele Menschen spendeten uns Stoffe und Wolle, sogar Nähmaschinen erhielten wir«, erzählt sie. Im April konnten die Frauen starten. Zum ersten Treffen kamen 25 Menschen - und zwar keineswegs nur Frauen: »Eine ganze Reihe Männer begleitete die Frauen, teilweise nähten sie auch mit.«

Inzwischen ist der Kreis der Teilnehmer etwas geschrumpft, Männer kommen nur noch vereinzelt. Wobei auch das nach wie vor passiert. »Unlängst war ein Mann mit seinem Enkelkind da«, berichtet Brigitte Obbarius. Grob nahm er mit dem Zollstock am Kind Maß. Danach schneiderte er ein Kleid - ohne Schnittmuster, aber mit viel Augenmaß und Fingerspitzengefühl.

Für Anette Romeis ist es besonders schön, zu erleben, dass sich Frauen ganz unterschiedlicher Religion auf den Nähtreff einlassen. Selbst der Altar, der im Gemeindesaal steht, weil die Erlöserkirche gerade nicht benutzt werden kann, stört niemanden. »Einmal meinte um 12 Uhr ein muslimischer Mann, dass er nun beten müsse«, erzählt Romeis. So etwas sei gar kein Problem, im Gemeindehaus lasse sich immer ein Raum finden, wo der Gebetsteppich entrollt werden könne.

Seit Herbst zieht sich das Nähangebot über einen ganzen Tag hinweg: Von 10 bis 16.30 Uhr sind die Tische aufgebaut.

In die Zeit fällt auch der Seniorentreff der Gemeinde. Nun versammeln sich dienstags im Gemeindesaal christliche und muslimische Frauen und Männer jedes Alters, dazwischen einige Kinder, um zu Nadel und Faden zu greifen, voneinander zu lernen und sich gegenseitig kreativ zu inspirieren.