Das Kirchenasyl ist vor allem in Bayern wieder in die Schlagzeilen geraten. Sind der Grund dafür wachsende Zahlen?

Martin: Die Zahlen sprechen da klar eine andere Sprache. Denn es stimmt nicht, dass es in Bayern außergewöhnlich viele Kirchenasyle gebe, wie häufig kolportiert wird. Nach aktuellem Stand befinden sich in evangelischen Gemeinden 68 Personen in 53 Kirchenasylen. In Mecklenburg-Vorpommern sind 47 Menschen im evangelischen Kirchenasyl, in Hamburg 93 und in Schleswig-Holstein 53. Es gibt also im Bereich der Nordkirche deutlich mehr Kirchenasyl-Fälle als in der bayerischen Landeskirche. Allerdings gibt es in Bayern Ermittlungen der Staatsanwaltschaften gegen Pfarrer und Pfarrerinnen, die Kirchenasyl gewähren, und gegen Geflüchtete im Kirchenasyl, die so aus anderen Bundesländern nicht bekannt sind.

"Das ist eine völlig neue Dimension der Strafverfolgung in Bayern."

Wie wirkt sich das aus?

Martin: Die Staatsanwaltschaft leitet Ermittlungen gegen den Pfarrer wegen "Beihilfe zum unerlaubten Aufenthalt" und gegen den Flüchtling wegen "illegalem Aufenthalt" als "Haupttat" ein. Dabei beruft sie sich auf das "Legalitätsprinzip", nach dem Ermittlungen eingeleitet werden müssen, wenn Straftaten bekannt werden. Im Gegensatz zu heute wurden, so das bayerische Justizministerium, diese Verfahren früher dem Betroffenen gar nicht mitgeteilt und wegen Geringfügigkeit eingestellt. Ganz neu ist, dass die Staatsanwaltschaft jetzt auch Vorermittlungen gegen ganze Kirchenvorstände einleitet. Nach meiner Kenntnis hat die Staatsanwaltschaft von zwei Gemeinden die Protokolle der Kirchenvorstandssitzungen angefordert, um gegen die am Kirchenasyl beteiligten Kirchenvorsteher zu ermitteln. Das ist eine völlig neue Dimension der Strafverfolgung in Bayern. In unserer Partnerkirche in Mecklenburg gibt es nach unseren Informationen kein einziges Ermittlungsverfahren.

Worauf führen Sie diese unterschiedliche Praxis zurück?

Martin: Ich kann nur die Aussage des bayerischen Justizministers anführen, dass es keine entsprechenden Anweisungen gebe, sondern die Staatsanwaltschaften nach dem "Legalitätsprinzip" gehalten seien, bei einem Verstoß gegen die Rechtsordnung Ermittlungen einzuleiten. Jetzt stellt sich aber dann doch die Frage, warum dieses "Legalitätsprinzip" in Bayern greifen soll, jedoch nicht in Mecklenburg – zumal unter Juristen und auch bayerischen Politkern die Meinung vertreten wird, der wir uns in der Landeskirche anschließen, beim Kirchenasyl handle es sich gar nicht um eine Straftat, weil Namen und Adressen der Geflüchteten den Behörden mitgeteilt werden.

"Jedes Kirchenasyl ist eine Gewissensentscheidung für die betroffenen Pfarrer."

Welche Möglichkeiten hat die Kirche, die Kirchenasyl-Gemeinden zu unterstützen?

Martin: Wir beraten die Gemeinden, vermitteln einen Rechtsbeistand und übernehmen dafür die Kosten. Allein für die Beratung haben wir 1,5 neue Stellen geschaffen. Bei den Beratungen ist es uns ganz wichtig, dass das Kirchenasyl eine Perspektive hat. Es macht keinen Sinn, ein Kirchenasyl auf Dauer einzurichten. Das ist, wie manche Fälle leider zeigen, für alle Beteiligten unerträglich. Eine wesentliche Voraussetzung ist, dass die nötigen Räumlichkeiten gegeben sind, dass es von genügend Ehrenamtlichen mitgetragen wird. Klar muss aber auch sein, dass jedes Kirchenasyl eine Gewissensentscheidung für die Pfarrerin und den Pfarrer ist. Diese Gewissensentscheidung und die möglicherweise daraus resultierenden rechtlichen Konsequenzen können wir ihnen nicht abnehmen. Allerdings sprechen wir mit den Verantwortlichen in den Ministerien, um die Situation zu entspannen. Geändert hat sich aber durch unsere Bemühungen in den vergangenen Monaten überhaupt nichts, sondern es kam ganz im Gegenteil bei den Ermittlungsverfahren zu einer Verschärfung, da diese jetzt in Bayern flächendeckend und auch für Fälle von Kirchenasyl, die lange zurück liegen, eingeleitet werden.

Die Politik hat aber auch sicherlich Erwartungen an die Kirche.

Martin: Natürlich. Und das genau ist unsere Zwickmühle. Die Gemeinden erhoffen sich häufig eine viel größere und umfangreichere Unterstützung bei ihrem Kirchenasyl, die wir nicht leisten können. Die Politik wiederum fordert von uns, die Kirchenasyle einzustellen, was wir gar nicht können. Denn jede Ortsgemeinde ist in dieser Hinsicht autonom, wir haben da überhaupt kein Durchgriffsrecht. Um es an dieser Stelle nochmals ganz deutlich zu sagen: Die Kirche will kein Recht neben dem Rechtsstaat, keinen juristischen Sonderweg. Uns geht es beim Kirchenasyl darum, dass besonders schwerwiegende Fälle überprüft werden, wenn beispielsweise eine Flüchtlingsfamilie aus Afghanistan, die viele Jahre im Iran gelebt hat und jetzt in ein Land abgeschoben werden soll, zu dem sie keine sozialen Bande mehr hat und dessen Sprache die Kinder gar nicht beherrschen. Ein Kirchenasyl ist Ausdruck des Mitgefühls, der Humanität im Rechtsstaat. Mehr als 80 Prozent der Kirchenasyle sind jedoch Dublin-Fälle. Dabei soll erreicht werden, dass die Asylverfahren in Deutschland durchgeführt werden und nicht in Ländern, in denen es offensichtlich gravierende Defizite bei den Verfahren und Misshandlungen von Asylsuchenden gibt, wie z. B. in Bulgarien. Da hat sich inzwischen auch einiges getan. So werden Asylbewerber nicht mehr nach Ungarn zurückgeführt, weil deutsche Gerichte "systemische Mängel" im dortigen Asylverfahren festgestellt haben. In solchen Fällen ist dann auch das Kirchenasyl nicht mehr nötig.

 

Interview: Achim Schmid