Vor zwei Jahren hat Sandra sich von ihrem Lieblingskuscheltier getrennt. Den lustigen Frosch mit der Strubbelfrisur hat die damals Neunjährige als Abschiedsgeschenk auf das Grab ihrer zwei Jahre älteren "großen" Schwester Sarah gelegt. Wind und Wetter haben die Farben ausgebleicht - Sandras Erinnerung an ihre große Schwester und den schrecklichen Unfall dagegen ist kaum verblasst. Das Fotoalbum aus der Zeit mit Sarah gehört zu ihren größten Schätzen. "Ich denke fast jeden Tag an Sarah", erzählt Sandra, die heute so alt ist, wie ihre Schwester damals war. Damals, als Sarah bei scheußlichem Regenwetter hinter dem Schulbus her über die Straße rannte und vom Auto erfasst wurde. "Als Mama und Papa aus der Kinderklinik kamen und sagten, dass Sarah tot ist, konnte ich erst gar nicht weinen", erinnert sie sich.

Kinder trauern anders als Erwachsene

Geweint und äußerlich getrauert hat Sandra längst nicht so, wie Eltern, Freunde und Verwandte das erwartet hatten. Die wunderten sich darüber, dass Sandra ihre Eltern keineswegs immer zum Friedhof begleitete, dass sie Freundinnen besuchen und einladen wollte, sich auf die Klassenfahrt freute und schnell wieder in ihren Kinderchor ging. "Kinder trauern anders als Erwachsene. Sie nehmen ihre Aktivitäten und den Kontakt zu Gleichaltrigen häufig schnell wieder auf. Und das ist gut so, auch wenn es in der Erwachsenenwelt manchmal auf Befremden stößt. Aber das heißt nicht, dass sie nicht trauern", weiß Trauerbegleiterin Anja Wiese vom Verein für Verwaiste Eltern in Hamburg. Sie rät Eltern dazu, Außenkontakte und Aktivitäten zu fördern und die oft verborgene Trauer ihrer Kinder wahrzunehmen und zu respektieren.

Geschwisterkinder sind oft die doppelten Verlierer: Sie verlieren ihren Bruder oder ihre Schwester, und sie erleben ihre Eltern stark verändert: Zurückgezogen, im Schmerz erstarrt, auf das verstorbene Kind und dessen besondere Gaben und Fähigkeiten fixiert, in der Frage nach der eigenen Schuld oder den Todesursachen verhaftet. Das verunsichert sie. Die überlebenden Geschwister fühlen sich oft schuldig, sie spüren den unausgesprochenen Vorwurf der Eltern, nicht genug zu trauern. Manche nehmen die Eigenschaften und Vorlieben des verstorbenen Kindes an, um damit die Eltern ein wenig zu trösten. Sie versuchen, rücksichtsvoll zu sein und überfordern sich dabei. Häufig reagieren sie mit schulischem Leistungsabfall, werden schneller krank, haben Trennungsängste, manchmal sogar Suizidgedanken.

Sandra fand Trost in ihren Träumen. Etliche Monate nach dem Unfall erzählte sie im Ton tiefster Gewissheit, sie habe Sarah gemeinsam mit dem Brüderchen, das zwei Jahre zuvor kurz nach der Geburt gestorben war, gesehen. "In einem wunderschönen Haus haben sie ganz toll gespielt". "Seitdem war sie irgendwie getröstet, auch wenn sie sich in den Folgemonaten ein dickes Fell anfutterte, das sie jetzt gerne wieder los würde", erzählt ihre Mutter.

Mit dem Schulbus darf Sandra allerdings bis heute nicht fahren. "Obwohl wir uns damals fest vorgenommen hatten, unsere Tochter jetzt nicht in Watte zu packen, bringen wir sie mit dem Auto", berichtet die Mutter fast entschuldigend. "Aber noch ein Kind zu verlieren, das würde ich nicht ertragen".

Geschwister fühlen sich in ihrer Trauer oft nicht ernst genommen

Die Gefahr, dass überlebende Geschwisterkinder überbehütet werden, ist Martina Halbe vertraut. In Deutschlands einzigem Kinderhospiz in Olpe kümmert sich die Pädagogin besonders um Geschwisterkinder von sterbenskranken Kindern. Die Zeit zwischen Angst und Hoffnung, die mit Therapien im Krankenhaus und anstrengender Pflege zu Hause ausgefüllt ist, beansprucht fast alle seelischen und körperlichen Ressourcen der Eltern. Auch wenn gesunde Geschwisterkinder in solchen Situationen oft ungewöhnlich verständig reagieren: "Vor allem jüngere Kinder reagieren oft eifersüchtig. Sie versuchen mit allen Mitteln, im Vordergrund zu stehen. Durch aggressives Verhalten oder indem sie in frühkindliche Verhaltensmuster zurückfallen, wieder einnässen oder in Babysprache reden", erläutert Martina Halbe die versteckten Hilferufe von Geschwisterkindern. Nicht selten ziehen ältere Kinder sich zurück und reagieren mit psychosomatischen Beschwerden. "Eltern sollten Möglichkeiten suchen, mit Geschwisterkindern auch mal alleine etwas zu unternehmen. Wer aus dem sozialen Umfeld könnte stundenweise bei dem erkrankten Kind bleiben?", rät Martina Halbe und verweist auch auf die Hilfe ambulanter Hospizdienste.

Jugendliche und Erwachsene fühlen sich in ihrer Trauer um eine Schwester oder einen Bruder oft nicht ernst genommen. "Damals, als Michael gestorben ist, habe ich mich selbst verloren. Bis dahin war ich eine Schwester, auf einmal ein Nichts. Alle haben Mitgefühl meinen Eltern gegenüber gezeigt. Ich dagegen hatte ›nur‹ den Bruder verloren. Und auch ich hatte ja meinen Eltern gegenüber die Sorge übernommen. Ich war für sie da, wollte ihre Trauer lindern. Wahrscheinlich wollte ich meinen Eltern, vor allem meiner Mutter, darüber hinweghelfen, dass Michael sterben musste und nicht ich. Ich habe mich dafür geschämt, die Überlebende zu sein", schreibt Michaela Wiese über den Verlust ihres Bruders. Seit sie gelernt hat, sich den Zorn auf ihre Mutter einzugestehen, für die der verstorbene Bruder ihr "ein und alles" war, konnte sie sich und ihre widerstreitenden Gefühle selbst wahr- und ernst nehmen. "Jetzt muss ich nur noch an mir arbeiten, dass ich nicht nur eine verwaiste Schwester bin, sondern noch viel mehr", sagt sie nach Jahren der Trauer.