Die Wunde, die Ruth S. als junge Frau davontrug, ist bis heute nicht verheilt. Die Zwillinge, die sie vor 18 Jahren in der 27. Schwangerschaftswoche geboren hat, hat die damals 24-Jährige nie zu Gesicht bekommen. Die Mädchen seien "nicht normal" gewesen. Was sie jetzt brauche, sei Ruhe, beschied ihr der Arzt. Kein Trost, nur die Vertröstung, sie sei ja noch jung und könne wieder schwanger werden. Auch im Familien- und Freundeskreis sah kaum jemand Anlass, sie zu trösten. Sicher sei es "ja besser so" gewesen, hieß es. Sie verbot sich zu trauern, räumte Babykleidung und Kinderbettchen weg und versuchte zu sein, was die Umwelt erwartete: "normal".

Zwei Jahre später brachte sie zwar einen gesunden Jungen zur Welt, aber noch heute quält sie der Verlust und die Fantasie darüber, was sich hinter der Aussage "nicht normal" verbarg. Ihre nicht gelebte Trauer brach sich in Gestalt einer Hauterkrankung Bahn. "Es hätte mir geholfen, meine Kinder zu sehen und sie begraben zu können", erzählt sie mit Tränen in den Augen.

Menschenwürde fängt er bei 1.000 Gramm an

Aber das war damals nicht möglich. Denn bis 1994 fing die Menschenwürde erst bei 1.000 Gramm an. Die jährlich 20.000 bis 30.000 tot geborenen Kinder wurden weder in den Personenstandsbüchern beurkundet, noch durften sie bestattet werden. Als namenloser "Abort" wurden sie "entsorgt", sprich: in der Pathologie zusammen mit anderem "Klinikabfall" verbrannt.

Erst seit 1998 gilt das Gesetz, nach dem auch tot geborene Kinder ab 500 g einen Namen bekommen dürfen und begraben werden können. Wo Eltern das nicht wissen oder nicht wünschen, bleibt es dabei: Totgeborene Kinder wandern in den Klinikabfall.

Einige Bestatter nutzen das Gesetz, um Eltern zum Abschiednehmen zu ermutigen. Dazu gehört, dass sie das winzige Wesen bekleiden und ihm vielleicht selbst ein Behältnis für die Beisetzung auf einem Gräberfeld, unter einem Rosenstrauch oder einem Apfelbäumchen basteln. "Jedes Leben ist es wert, betrauert zu werden", ist die Überzeugung von Bestatter Fritz Roth aus Bergisch-Gladbach, der solche Bestattungen kostenlos anbietet. "Denn schließlich haben Eltern sich während der Schwangerschaft auf ihr Kind eingestellt, haben es gespürt und haben Pläne gemacht. Nicht gelebte Trauer macht krank", sagt der überzeugte Christ.

Auch in der Geburtshilfe wandelt sich die Einstellung. Gerd Eldering, Chefarzt in Bensberg bei Köln, gilt als Vorreiter einer selbstbestimmten Geburt und eines neuen Umgangs mit Kindern, die vor, bei oder kurz nach der Geburt sterben. "Es gibt nur tote Kinder, und zwar völlig unabhängig davon, wie viel Gramm ein Baby gewogen hat. Gewicht hat einzig die Bindung, die zwischen Eltern und Kind entstanden ist", sagt er und praktiziert heute das Gegenteil dessen, was er in den 70er-Jahren gelernt hat. "Wir meinten, Mütter schonen zu sollen, indem wir sie nicht mit dem Tod konfrontierten. Wir haben Tücher gespannt, um der armen Mutter den Anblick ihres toten Kindes zu ersparen". Heute ist er überzeugt, dass es den Müttern hilft, ihr totes Kind zu sehen, damit sie nicht um ein "Phantom" trauern.

Dankbar für die Stunden des Abschieds

Eine Erfahrung, die Frauke L. geholfen hat, den Tod ihres ersten Kindes, das nur 13 Stunden lebte, zu bewältigen. Eigentlich hatte sie eine Hausgeburt geplant. Doch als fünf Wochen vor dem Geburtstermin Wehen einsetzten, und weil das Baby in Steißlage lag, ging sie doch ins Krankenhaus, wo Hannes, wie Frauke L. und ihr Mann ihren ersten Buben nannten, geboren wurde. Doch dann der Schock: Eine Fehlanlage der Nieren würde das Kind unweigerlich innerhalb der nächsten Stunden sterben lassen. Frauke L. ist bis heute für die Stunden des Abschieds dankbar: "Hannes legten wir auf meinen Bauch. Wir bekamen einen Fotoapparat und konnten ihn fotografieren. Die Hebamme half uns, mit einem Stempelkissen Fußabdrücke von Hannes zu machen, und wir schnitten ihm ein paar Haare ab. Erinnerungen, die sehr wichtig für uns geworden sind. Wir hatten Zeit, Hannes zu streicheln und ihm das Lied zu singen, das wir auch während der Schwangerschaft oft gesungen hatten. Der Arzt stellte den Kontakt zum Krankenhausseelsorger her, mit dem wir Hannes' Taufe besprechen konnten, die wir uns wünschten. Der Pfarrer brachte uns eine Taufkerze, segnete uns, betete für und mit uns, taufte Hannes und sang mit uns noch einmal ›unser‹ Lied. Die Taufe half uns, Hannes an Gott abzugeben. Er starb irgendwann auf meinem Bauch, er schlief einfach ein."

Den kleinen Sarg trug Hannes` Vater fünf Tage später selbst auf den Armen in die Kirche. "Vor Hannes` Geburt und Tod konnte ich mir nicht vorstellen, dass eine leidvolle Lebenssituation mich Gott besonders nahe bringen könnte. Jetzt kann ich sagen, dass ich Gottes Nähe bislang am deutlichsten in der Sterbe- und Trauersituation mit Hannes erlebt habe", sagt Frauke L. heute, knapp sechs Jahre später. Auf die Frage "Wie viele Kinder haben Sie?" kann sie heute antworten: "Drei. Hannes im Himmel und Moritz (4) und Anna (2) zu Hause." (Alle Namen geändert.)