Was empfanden Sie im Reformationsjubiläum als Highlight, was als Tiefpunkt?

Lauster: Bisher habe ich die verschiedenen Festivitäten eher aus der Distanz verfolgt, weil ich längere Zeit in Italien war. Positiv empfand ich, dass auch in Venedig oder Rom das Jubiläum mit vielen Veranstaltungen eine überraschend große Resonanz fand. Ein Tiefpunkt waren für mich einige Beiträge auf dem Internetportal www.evangelisch.de, bei dem zum Beispiel die Geschichte des verlorenen Sohns mit "Ananas" als Vater und "Banane" als Sohn erzählt wurde oder vermeintlich prominente Protestanten ihren Protestantismus in einem Protestant-O-Mat messen konnten.

Gundlach: Es gab eine ganze Kette von Höhepunkten, beginnend mit der revidierten Lutherbibel und den Eröffnungsfeierlichkeiten am 31. Oktober 2016 bis zum ökumenischen Höhepunkt, dem Hildesheimer Versöhnungsgottesdienst "Healing of Memories". Hier war es beeindruckend, in welcher Weise sich die beiden Kirchen aufeinander zubewegt haben, gegenseitig um Versöhnung gebeten und eine Selbstverpflichtung abgegeben haben. Schade fand ich im Rückblick die niedriger als erwartet ausgefallenen Teilnehmerzahlen bei den "Kirchentagen auf dem Weg", vor allem auch deshalb, weil so viele Ehrenamtliche dafür Zeit und Herzblut investiert haben.

500 Jahre Reformation

Dossier

Vor 500 Jahren hat der Theologe Martin Luther (1483-1546) mit der Veröffentlichung seiner 95 Thesen die Reformation angestoßen, die zur Spaltung von evangelischer und
katholischer Kirche führte. Wie haben Gemeinden, Dekanate und Kirchenkreise das Reformationsjubiläum 2017 gefeiert? Was ist für den Reformationstag am 31. Oktober geplant? Und warum ist der dieses Jahr ein Feiertag? Erfahren Sie mehr in unserem Dossier unter www.sonntagsblatt.de/reformation!

»Frömmigkeit, auch die evangelische, braucht Rituale, einen festen Rahmen und vertraute Sprache, sonst verdunstet sie«: Thies Gundlach.
»Frömmigkeit, auch die evangelische, braucht Rituale, einen festen Rahmen und vertraute Sprache, sonst verdunstet sie«: Thies Gundlach.

Mal angenommen, das Reformationsjubiläum wäre morgen zu Ende: Hätte es sich auch dann gelohnt?

Gundlach: Eindeutig. Denn die Reformationserinnerungen haben doch jetzt schon drei große Schübe gebracht: für die Ökumene, weil es eben nicht in Abgrenzung, sondern in ökumenischer Gemeinsamkeit begangen wurde; für einen neuen geistlichen Aufbruch, weil in ganz vielen Veranstaltungen die evangelischen Kernthemen wie die Rechtfertigungslehre wieder und neu ins Blickfeld gerückt wurden; und für die Gesellschaft, weil mit der lutherischen Freiheits-Theologie ein Thema gesetzt wurde, das gerade in Zeiten der Verunsicherung für die Öffentlichkeit relevant ist.

Lauster: Die Einschätzung hängt natürlich davon ab, mit welchen Erwartungen man in dieses Reformationsjubiläum gegangen ist. Das neu erwachte öffentliche Interesse ist für sich etwas Gutes, wie auch der Bildungserfolg – wer war Luther, was waren seine Ziele. Leise Zweifel habe ich allerdings, ob das Freiheits-Thema schon in der Öffentlichkeit angekommen ist.

»Statt den großen Fragen des Daseins nachzugehen, kreist die Institution Kirche hauptsächlich darum, welche Gebäude in 100 Jahren noch wo stehen sollen und ob die Glocke bimmelt«: Jörg Lauster.
»Statt den großen Fragen des Daseins nachzugehen, kreist die Institution Kirche hauptsächlich darum, welche Gebäude in 100 Jahren noch wo stehen sollen und ob die Glocke bimmelt«: Jörg Lauster.

Wie erreicht man die Menschen in der Kirche?

Die ökumenische Ausrichtung als Christusfest hat aber auch für handfeste innerevangelische Kritik gesorgt: Aus einem Schuldgefühl über die Kirchenspaltung und aus typisch protestantischer Zerknirschung werde das eigene Profil verleugnet.

Gundlach: Diesen Eindruck habe ich ganz und gar nicht! Es ist doch gerade ein Zeichen von protestantischem Selbstbewusstsein, ein derartiges zentrales evangelisches Jubiläum bewusst in ökumenischem Geist als Christusfest zu begehen. Und die Unterschiede sind oft nur noch für Spezial-Theologen überhaupt wahrnehmbar. Auch wenn diese theologischen Unterschiede geklärt werden müssen, sind doch die beiden Bischöfe Marx und Bedford-Strohm, die jeweils eine Kirche repräsentieren, für viele meist nur noch in ihrer Kleidung zu unterscheiden, nicht aber in ihren gesellschaftspolitischen Positionen. Und angesichts der zunehmenden Zahl der Menschen, die mit dem Christentum nicht vertraut sind, ist es auch unbedingt nötig, dass die beiden Kirchen immer stärker mit einer Stimme in die Gesellschaft hineinsprechen.

Lauster: Ihre analytische Einschätzung würde ich ja weitgehend unterschreiben und sehe in der ökumenischen Annäherung eine Riesenchance für die Kirchen. Allerdings halte ich – mit Verlaub – den Titel Christusfest für unglücklich, weil nichtssagend. Denn im Christentum sollte doch jeder Gottesdienst ein Christusfest sein.

 

Herr Gundlach, Sie beklagten eine "grummelige Meckerstimmung" und "Ignoranz" von renommierten Theologieprofessoren an der Ausgestaltung des Reformationsjubiläums.

Gundlach: Mein deutliches Unverständnis an der Haltung einiger Theologieprofessoren hat in der Tat eine Welle ganz unterschiedlicher Reaktionen ausgelöst – von Kritik bis Zustimmung. Jetzt ist der Pulverrauch verzogen, und wir sind auf eine Sachebene zurückgekehrt, was ich sehr begrüße. Denn wir brauchen dringend die Diskussion zum Verhältnis von theologischer Wissenschaft zu kirchlichem Handeln. Denn wir müssen doch ein gemeinsames Interesse an einer starken evangelischen Theologie und einer ebenfalls theologisch gehaltvoll geleiteten Kirche haben.

 

Herr Lauster, in Ihrem neuen Buch regen Sie an, zum Reformationsjubiläum den Zusatz "lutherisch" bei den evangelischen Kirchen zu streichen…

Lauster: Es gehört zu den interessanten Rezeptionserfahrungen, dass ironisch gemeinte Passagen ernst genommen werden und umgekehrt. Der ernsthafte Kern eines nicht ernsthaft gemeinten Vorschlags ist allerdings, dass unsere Kirche die einzige Kirche ist, die ich kenne, die den Namen eines Menschen als Bezeichnung führt. Die Konsequenz daraus ist ein Personenkult, der mich stört und der sich auch mit diesem Lutherkopf als Symbol in dem Reformationsjubiläum niederschlägt.

Gundlach: Das kann ich so nicht nachvollziehen. Denn der Kirchenleitung war es gerade wichtig, das gesamte Reformationsgeschehen in den Blick zu nehmen und Luther in einen größeren Kontext zu rücken. Natürlich haben wir immer die Herausforderung, zugleich Aufmerksamkeit erzielen zu wollen, ohne inhaltlich zu verflachen. Es war deshalb die dringende Empfehlung der Marketing-Leute, mit eingängigen und eindeutigen Symbolen wie dem stilisierten Lutherkopf die Aufmerksamkeits-Schwelle zu überwinden. Der Vorwurf, die Reformation reduziere sich auf Playmobilfiguren, ist polemisch und unfair.

 

Welche "Sprache" soll die Kirche sprechen?

Was sollte sich denn im Verhältnis von Kirche, insbesondere Kirchenleitung, und theologischer Wissenschaft ändern?

Gundlach: Beginnen möchte ich mit einer eher schwierigen Feststellung. Denn kaum steht ein Theologe / eine Theologin auf der Kanzel oder ist kirchenleitend unterwegs, beklagen einzelne Wissenschaftler, was für eine dogmatische oder unverständliche Sprache diese Leute verwenden. Da frage ich mich doch, von wem sind diese Theologen denn ausgebildet worden?

Lauster: Der Punkt geht an Sie. Das Problem zwischen Kirche und Theologie besteht wohl darin, dass in der Wissenschaft liberale Theologen mit der Sprache des Kulturprotestantismus zugange sind, dieser Sprachstil sich dann aber in der Kirche nicht durchsetzt. Bereits seit dem 19. Jahrhundert lassen sich im Protestantismus zwei Strömungen beobachten – eine stark bekenntnisorientierte und eine kulturprotestantische, die natürlich beide ihren eigenen Sprachduktus haben. Heute hat die Kirche zwei Alternativen, wie sie auf die Moderne reagieren kann: Sie erhöht dauerhaft den Identifikationsgrad mit klaren, an der Vergangenheit orientierten Sprachstilen – oder mit einer Öffnung ihrer Sprachstile für die Neuzeit. Die Kirchenleitung hat sich für einen dogmatischen, identitätsstiftenden Sprachstil entschieden, was nicht verwundert, muss sie doch versuchen, den ganzen Laden zusammenzuhalten. Man will dann nicht auch noch die, die sich zum Kernchristentum rechnen, verschrecken.

Gundlach: Sie haben recht: Die kirchenleitende Sprache ist eher die alte, dogmatische Sprache, weil sie gerade auch in unseren individualisierten Zeiten einen höheren Identifikationsfaktor bietet. Frömmigkeit, auch die evangelische, braucht Rituale, einen festen Rahmen und vertraute Sprache, sonst verdunstet sie. Was wäre der Protestantismus ohne seine Lutherbibel und seine alten Lieder? Die alten Texte entfalten immer noch eine große Kraft, wie beispielsweise immer wieder bei Trauerfeiern spürbar wird. Diese Traditionen werden nicht zuletzt in der Institution Kirche, also auch von der Kirchenleitung, bewahrt. Deshalb ist für mich die Kritik der Wissenschaft an der verfassten Kirche nicht recht nachvollziehbar.

Lauster: Wir sind uns ja völlig einig, dass keine Religion ohne Institution existieren kann. Auch die Reformation hatte nie eine radikale Individualisierung zum Ziel. Sie hat aber – und das ist entscheidend – das Verhältnis von Individuum und Institution gedreht. Die Institution Kirche hatte demzufolge eine dienende Funktion für die individuelle Glaubenspraxis des einzelnen Menschen. Was mich deshalb so massiv stört, sind die ewigen Strukturdebatten in der Institution Kirche. Statt den großen Fragen des Daseins nachzugehen, kreist die Institution darum, welche Gebäude in 100 Jahren noch wo stehen sollen und ob die Glocke bimmelt.

 

Egal welches Zukunftskonzept, die Kirche erreicht kaum noch die jüngeren Generationen. Sind Marketing-Kampagnen die Lösung?

Gundlach: Bei einem Großteil der 20 bis 30-Jährigen fehlt heute das Verständnis für einen offenen Himmel oder das Verhältnis zu Glaube und Gott. Diese Sprachlosigkeit ist sehr traurig. Kampagnen, die mit Kommunikations-Angeboten arbeiten, sind hier auch nur begrenzt wirksam, weil sie vor allem von den ohnehin schon Hochgebundenen wahrgenommen werden.

Lauster: Die Theologie kann da auch kein Patentrezept anbieten. Es wäre zwar verlockend, ganz auf den evangelikalen Verkündigungsstil zu setzen, das weltweit erfolgreichste Modell. Das funktioniert bei uns in Europa aber nicht. Ein sehr stabiles Medium sind immer noch die Kasualien, bei denen man auf vielfältige Weise mit den Menschen in Kontakt kommt.

(Fragen: Claudia Dinges und Helmut Frank)

 

BUCHTIPP

Jörg Lauster: Der ewige Protest – Reformation als Prinzip, Claudius Verlag 2017, 144 Seiten, 12 Euro. ISBN 978-3-532-62496-8. Bestellmöglichkeit: (0 89) 1 21 72-119, vertrieb-claudius@epv.de

 

Das Reformationsjubiläumsrauschen erreicht seinen Höhepunkt. Grund genug für einen kritischen Zwischenruf: Wie viel Selbstgefälligkeit verträgt der Protestantismus? Welche Zukunft hat Religion überhaupt in der heutigen Gesellschaft? Radikale Entchristlichung auf der einen, entschlossener Fundamentalismus auf der anderen Seite, dazwischen klerikal hochkirchliche und kuschelreligiöse Rettungsinseln oder überpolitisiertes, moralisch anstrengendes Weltverbesserertum. 
Erinnerung an die Reformation heißt, das Unzähmbare an der Kraft des Heiligen selbst zu verstehen.
Reformation ist Prozess und Prinzip, vor allem aber ein dem Christentum selbst innewohnender Antrieb. Jörg Lauster, einer der profiliertesten Vertreter der liberalen Theologie, plädiert für eine Überwindung der landeskirchlich und konfessionell erstarrten Gestalt des deutschen Protestantismus und für eine Ökumene, die wesenhaft mehr sein muss als dogmatische Übereinstimmungserzielung.