225 Personen haben im Jahr 2016 in 150 evangelischen Kirchengemeinden in Bayern Schutz vor Abschiebung gefunden. Derzeit befinden sich 80 Personen in der Obhut von 50 Gemeinden. Stephan Reichel berät die Gemeinden seit 2014 in allen Fragen rund ums Kirchenasyl. Seit 1. Januar 2017 ist er »Koordinator Kirchenasyl« der Landeskirche. Seine Erfahrung: Je ländlicher die Region, desto häufiger engagieren sich Gemeinden im Kirchenasyl.  


Was ist ein Kirchenasyl und was soll es erreichen?

Reichel: Nach unseren Kriterien erhält Kirchenasyl jemand, der traumatisiert ist und bei seiner Abschiebung Gefahr für Leib und Leben oder menschenunwürdige Behandlung befürchten muss. Kirchenasyl ist keine Maßnahme gegen den Staat. Es ist als »ultima ratio« ein Akt der Barmherzigkeit, der den Betroffenen Zeit verschafft, damit ihr Fall vom Staat noch einmal geprüft werden kann. Wir achten darauf, dass wir Menschen aufnehmen, die eine gute Erfolgsaussicht haben. Das gilt vor allem für Dublin-Fälle, die 90 Prozent aller Kirchenasyle ausmachen. Wenn wir die Überstellungsfrist in das laut Dublin zuständige europäische Land überbrücken, können die Menschen anschließend in Deutschland Asyl beantragen – so regelt es die Verordnung.

 

Ist das rechtlich erlaubt?

Reichel: Juristisch betrachtet gibt es kein Kirchenasyl. Die deutschen Innenminister bekräftigen aber regelmäßig die Duldung der Kirchenasyl-Praxis aus der christlichen Tradition heraus. Rein rechtlich könnten die Behörden ein Kirchenasyl räumen; es wird aber selten gemacht. Die theologische Begründung für ein Kirchenasyl findet sich unter anderem in der Rede vom Weltgericht, im Matthäusevangelium, Kapitel 25, Verse 25 und 40. Dort heißt es: »Ich bin ein Fremder gewesen und ihr habt mich aufgenommen. …Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.« Man könnte sagen, dass alle Sätze dieses Kapitels auf Flüchtlinge zutreffen: Sie sind hungrig, durstig, obdachlos, oft krank, und manchmal – wie in Bulgarien oder Ungarn – auch gefangen. Die vordringliche Frage ist dennoch, wie wir Kirchenasyle vermeiden können. Aber dazu braucht es politische Lösungen.


Welche wären das?

Reichel: Die Dublin-Abschiebungen nach Bulgarien und Ungarn müssen ausgesetzt werden, denn dort werden Flüchtlinge systematisch unter unwürdigen Bedingungen eingesperrt, geschlagen und erniedrigt. Uns liegen Berichte darüber vor, dass Flüchtlinge in bulgarischen Gefängnissen kaum Essen bekommen und kein Wasser – sie müssen aus dem Spülkasten der Toilette trinken oder direkt aus dem Klo. In ungarischen Gefängnissen werden zum Teil 30 Menschen in einen Käfig gepfercht, der so klein ist, dass sich nie alle hinlegen können. Morgens lassen die Wärter Hunde in den Käfig, die auf die Kinder losgehen. Wenn die Menschen schließlich – oft gegen Geld – gehen können, sagt man ihnen Sätze wie: »Wenn du zurückkommst, schlagen wir dich tot.« Es ist ein Skandal, dass so etwas in Europa möglich ist.

 

Leisten Sie neben der Beratung der Gemeinden auch politische Arbeit im Hintergrund?

Reichel: Bislang habe ich bei allen Kirchenasylen eng mit der zuständigen Abteilung im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) zusammengearbeitet. Dort wurde eine Härtefallprüfung vorgenommen. Zwischen Mai 2015 und April 2016 sind ungefähr hundert Fälle positiv beschieden worden, eine Erfolgsquote von 90 Prozent. Leider gibt es die Tendenz, dass die Behörden sich gegenüber humanitären Gründen eher wieder verschließen. Es wird sogar überlegt, die Abschiebung nach Griechenland wieder zu erlauben. Ich sage ganz klar: Dann wird es wieder mehr Fälle von Kirchenasyl geben.