Im Streit um den Umgang mit dem als sexistisch kritisierten Gedicht von Eugen Gomringer hat die Tochter des Schriftstellers das Werk verteidigt. »Ich habe 'avenidas' immer theologisch gelesen – als einen Dank an Gott«, sagte die Germanistin Nora Gomringer der Berliner Zeitung. Zugleich übte die 1980 geborene Autorin Kritik an der geplanten Übermalung des Gedichtes ihres Vaters.

Der Bezug zur Religion sei den Gedicht-Kritikerinnen aber wahrscheinlich "auch wieder lästig", sagte Gomringer: "Mit einem Gott, dem Straßen, Blumen – und Frauen ihre Existenz verdanken, wollen sie nichts zu tun haben. Ich glaube, der ganze Streit um das Gedicht ist letztlich eine gewalttätige Absage an die Religion, an die Existenz Gottes in der irdischen Wirklichkeit." Vordergründig werde mit dem Streit um das Gedicht ein Geschlechterkampf ausgetragen. Nora Gomringer zufolge ist das Gedicht ihres Vaters aber "ein staunendes Betrachten, das Abstand hält – und ist eigentlich eine religiöse Kategorie".
 

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un admirador

Gedicht "Avenidas" von Eugen Gomringer

"Avenidas" seit 2011 auf Berliner Hauswand

Das in die Kritik geratene Gedicht des bolivianisch-schweizerischen Künstlers "avenidas" ziert seit 2011 eine Außenmauer der Alice Salomon Hochschule in Berlin. Die spanische Originalfassung entstand 1953 und lautet übersetzt: "Alleen / Alleen und Blumen / Blumen / Blumen und Frauen / Alleen / Alleen und Frauen / Alleen und Blumen und Frauen und / ein Bewunderer".

Studierende der Fachhochschule hatten wiederholt eingewandt, das Werk reproduziere eine "klassische patriarchale Kunsttradition, in der Frauen ausschließlich die schönen Musen sind, die männliche Künstler zu kreativen Taten inspirieren". Zudem erinnerten die Verse "unangenehm an sexuelle Belästigung, der Frauen alltäglich ausgesetzt sind". Der Senat der Hochschule beschloss daraufhin Ende Januar, das Gedicht übermalen zu lassen und im Herbst durch Verse der Dichterin Barbara Köhler zu ersetzen.

Grütters: "Erschreckender Akt der Kulturbarbarei"

Die Entscheidung hatte teils scharfe Kritik ausgelöst. Kulturstaatsministerin Monika Grütters (CDU) bezeichnete sie als "erschreckenden Akt der Kulturbarbarei". Kunst und Kultur bräuchten den Diskurs, betonte Grütters: "Wer dieses Grundrecht durch vermeintliche ›political correctness‹ unterhöhlt, betreibt ein gefährliches Spiel." Ähnlich äußerte sich die Akademie der Künste, deren Mitglied Gomringer ist.

Der 93-jährige Dichter hatte die geplante Übermalung seines Gedichts ebenfalls scharf kritisiert. "Das ist ein Eingriff in die Freiheit von Kunst und Poesie", sagte Gomringer nach Bekanntwerden der Entscheidung. Er behalte sich rechtliche Schritte vor. Es gehe den Verantwortlichen, so Gomringer, um die Entfernung eines "nicht weichgespülten Gedichts" im Sinne einer falsch verstandenen Political Correctness.

PEN und Kulturrat warnen vor Zensur

Der Fall hatte bereits im vergangenen Jahr auch international für Aufsehen erregt. Die Schriftstellervereinigung PEN-Zentrum Deutschland und der Kulturrat warnten vor Zensur. Dessen Geschäftsführer Olaf Zimmermann bekannte: "Ich hätte es nie für möglich gehalten, dass eine Hochschule, die selbst Nutznießer der Kunst- und Wissenschaftsfreiheit ist, dieses Recht dermaßen mit Füßen tritt."

Gomringer, der im oberfränkischen Rehau lebt, zählt zu den bedeutendsten Autoren der deutschen Gegenwartsliteratur seit den Fünfzigerjahren. Er gilt als Initiator der Konkreten Poesie, bei der es weniger um den Inhalt von Sprache geht und mehr darum, Wörter anschaulich aneinanderzureihen.