2012 ein Hungerstreik in Würzburg, im Juni 2013 dann ein Trinkstreik in München, zuletzt Protestmärsche durch den Freistaat und die Besetzung des Münchner Gewerkschaftshauses - mit Demonstrationen wie diesen wollen Flüchtlinge in Bayern ein Bewusstsein für ihre Lebensbedingungen in Deutschland schaffen. Bei einem Redaktionsgespräch im Evangelischen Presseverband für Bayern e.V. erzählen der Afghane Mohammad Mokhtari (21), der Iraner Azizallah Kazai (47) und der Kongolese Robert Seko (33) über das Leben in ihrer Heimat, die Flucht nach Deutschland und ihre Zukunftsträume.

 

Wie lange leben Sie schon in Deutschland?

Mohammad Mokhtari: Ich bin seit zwei Jahren in Deutschland. Ich wohne in einer Flüchtlingsunterkunft in Tirschenreuth. Nach 21 Monaten wurde mein Asylantrag abgelehnt. Die Begründung: Mein Leben sei nicht in Gefahr. Ich habe Widerspruch eingelegt. Bis dazu eine Entscheidung fällt, muss ich bestimmt noch einmal ein bis zwei Jahre in Ungewissheit leben. Wie kann Deutschland glauben, dass in Afghanistan mein Leben nicht in Gefahr ist? Deutschland schickt doch keine Soldaten in ein sicheres Land!

Azizallah Kazai: Ich bin seit elf Monaten in Deutschland. Im August wurde mein Asylantrag abgelehnt. Ich habe Widerspruch eingelegt. Für mich gibt es keine Alternative, was soll ich sonst machen? Zurück in den Iran kann ich nicht. Als Regimekritiker würde ich sofort verhaftet.

Robert Seko: Ich habe vier Jahre im Asylbewerberheim in Neuburg an der Donau gelebt, war in Höhenkirchen und im Moosfeld in München. Ich brauche eine Zukunftsperspektive.

Sind Sie alleine hier oder mit Ihrer Familie?

Kazai: Meine Familie ist in Teheran. Ich bin alleine hier. Ich war im Iran in einer Notsituation, meine Flucht war riskant. Ich wusste nicht, ob ich es schaffe. Meine Familie mitzunehmen, wäre unmöglich gewesen.

Mokhtari: Meine Mutter und meine Geschwister leben im Iran. Dorthin mussten wir fliehen, als ich vier Jahre alt war. Mein Vater war in einer Miliz, um sich gegen die Regierung zu verteidigen, die gerade über das Gebiet geherrscht hat. Dabei wurde mein Vater getötet. Meine Familie war dann nicht mehr sicher in Afghanistan.

Was war der Grund für Ihre Flucht nach Deutschland?

Kazai: Ich war politischer Aktivist und Gegner des Amadinedschad-Regimes. Ich war im Untergrund tätig. Der Geheimdienst hat mich deshalb gesucht. Hätte er mich erwischt, würde ich jetzt für lange Zeit im Gefängnis sitzen. Ich wäre ein politischer Gefangener gewesen, wäre also strenger behandelt worden.

Mokhtari: Im Iran haben wir Afghanen wenig Rechte. Wir bekommen keinen Ausweis. Für afghanische Kinder ist es schwierig, überhaupt in die Schule gehen zu dürfen. Afghanen dürfen außerdem keine Häuser mieten, offiziell arbeiten sowieso nicht. Der Iran versucht uns immer wieder auszuweisen, dreimal wurde ich zurück nach Afghanistan gebracht. Dann hat die Polizei gedroht, mich zu erschießen, sollten sie mich noch mal im Iran erwischen.

Seko: Ich komme aus dem Norden des Kongo und bin in einem kleinen Dorf bei Boucavou aufgewachsen. Mein Vater hatte einen kleinen Hof. Ich bin ein Waisenkind seit meinem 16. Lebensjahr. Ich habe meine ganze Familie im Krieg verloren. Für mich gab es keine friedliche Zukunft im Kongo.

Wie ist Ihre Flucht verlaufen?

Kazai: Ich wollte erst mal in die Türkei, hatte aber Angst, an der Grenze erschossen zu werden. Das passiert politisch Verfolgten im Iran öfter. Ich habe mich dann an einen Sado-Maso-Club gewandt. Die Leute dort kennen sich ja mit Arbeit im Untergrund aus, weil Sex in der iranischen Öffentlichkeit nichts verloren hat. Sie schmuggeln öfter Menschen über die Grenze, mich dann auch.

Wie ging es dann weiter?

Kazai: Die Leute aus dem Teheraner Untergrund haben mir einen gefälschten Pass besorgt und einen Begleiter. Er ist mit mir mitgeflogen und hat mich durchs Terminal am Düsseldorfer Flughafen geschleust. Er hat mir dann den Pass wieder abgenommen und ist wieder zurück. Ein solcher Begleiter war für mich eine Garantie, dass ich nicht betrogen werde. Wäre etwas schiefgelaufen mit meinem Pass, wäre auch rausgekommen, dass er mein Schmuggler war.

Und bei Ihnen?

Seko: Ich bin wegen der Unruhen im Kongo geflohen, über Uganda nach Kampala, Lagos, Abuja nach Frankfurt.

Mokhtari: Meine Familie hat mir Geld für die Flucht gegeben. Ich wurde erst in die Türkei geschmuggelt, dann weiter nach Griechenland. Von dort aus bin ich nach Berlin geflogen.

Auch mit gefälschtem Pass?

Mokhtari: Ja. In Griechenland müssen die Flüchtlinge 300 oder 400 Euro zusammenbekommen, um einen gefälschten Pass von Schmugglerbanden zu kaufen. Man geht zum Flughafen und versucht durchzukommen. In neun von zehn Fällen wird man wieder rausgeschickt. Da das so oft vorkommt, müssen die Flüchtlinge keine Verfolgung durch die griechischen Behörden fürchten. Die Pässe werden aber eingezogen. Ich hatte Glück, es hat beim ersten Mal funktioniert.

Wie viel hat sie die Flucht insgesamt gekostet?

Mokhtari: Vom Iran bis nach Deutschland: 5.000 Euro. Ich musste unterwegs viel arbeiten und mir Geld leihen. Die Flucht hat 35 Tage gedauert.

Kazai: Bei mir waren es 10.000 Euro, meine Familie hat mir dabei geholfen. Für meine Frau und mein Kind würde es "nur" 12.000 Euro kosten, weil sie keine "Risikoflüchtinge" sind. Sie werden vom Regime nicht gesucht, sind also keine politischen Verfolgten. Da verlangen die Schmuggler dann weniger.

Warum haben Sie sich Deutschland ausgesucht?

Kazai: Die Schmuggler haben mir gesagt, dass sie mich in jedes europäische Land bringen können. Ich habe mich für Deutschland entschieden, weil ich weiter politische Arbeit machen wollte und weil ein Freund zu der Zeit in Deutschland war.

Was sind Sie von Beruf, was haben Sie gelernt?

Kazai: Ich bin Maschinenbauer und habe als Abteilungsleiter in einer Druckerei gearbeitet.

Mokhtari: Ich habe immer nur Aushilfsjobs gemacht. Ich habe auch sieben Monate als Elektriker gearbeitet.

Seko: Ich habe Hühner und Eier verkauft. Ich habe Abitur gemacht und angefangen, Chemie und Biologie zu studieren.

Was wussten Sie vorher über Deutschland?

Mokhtari: Ich dachte, dass man in Deutschland sicher leben kann und nicht verfolgt wird. Und dass alle Menschen gleich behandelt werden - vor allem Menschen aus Kriegsgebieten. Ich habe gedacht, dass die Deutschen für jemanden wie mich Verständnis haben.

Kazai: Ich war 2004 für meine Firma bei der Druckermesse in Düsseldorf. Als ich jünger war, habe ich viele Bücher von deutschen Schriftstellern gelesen, etwa Erich Fromm oder Bertolt Brecht. Mit 15 bin ich von der Schule geflogen, weil ich mich kritisch über die Regierung geäußert habe. Der Grund, warum ich trotzdem die Schule weitermachen wollte und nicht resignierte, war das Gedicht "Lob des Lernens" von Bertolt Brecht. Darin schreibt er, dass die Unterdrückten lernen sollen, unter anderem auch: "Lerne, Mann im Asyl, lerne Mann im Gefängnis." Ich kann das Gedicht auswendig, es passt zu meiner Situation.

Wie geht es Ihnen jetzt in Deutschland?

Kazai: Ich habe auf der Flucht alles verloren: meine Familie, Wohlstand, sozialen Status, Freunde, Hobbys, die vertraute Umgebung. Als ich in Deutschland angekommen bin, ist mir aufgefallen, dass ich noch etwas viel Wichtigeres verloren habe: meine Sprache, die Fähigkeit zu kommunizieren. Ich weiß ja nicht, welchen Wert für euch Deutsche Arbeit hat. Für mich ist Arbeit nicht nur dazu da, um Geld zu verdienen. Arbeit definiert einen Menschen. Wenn uns das Recht genommen wird, zu arbeiten, das Recht genommen wird, etwas zu tun, was wir gerne machen, wird uns unsere Identität genommen.

Mokhtari: Meine Familie lebt im Iran in ärmlichen Verhältnissen. Ich möchte in Deutschland arbeiten, um sie unterstützen zu können. Die Situation hier, zwei Jahre lang Nichtstun, macht mich fertig. In den Flüchtlingsunterkünften können wir kaum mehr tun als essen und schlafen.

Können Sie gut Kontakt zu Ihrer Familie halten?

Mokhtari: Meine Familie hat kein Telefon. Wir können alle zwei bis drei Monate mal länger miteinander telefonieren, wenn sie jemanden mit Telefon finden.

Wie ist das Leben in den Gemeinschaftsunterkünften?

Kazai: Da können Tiere untergebracht werden, aber keine Menschen. Ich wohne in einem Lager in Dingolfing, da ist die Situation noch nicht so krass. Ich kenne aber Lager, wo 500 Leute untergebracht sind. Auf jeder Etage leben 40 Leute, es gibt aber nur zwei Duschen und zwei Waschbecken. Die Flüchtlinge müssen ihr Gesicht da waschen, wo sie auch Geschirr spülen.

Mokhtari: Ich wohne in Tirschenreuth in einem Neubau. Das ist auch besser als viele andere Unterkünfte. Ich wohne in einem Zimmer mit fünf anderen Leuten. Jeder spricht eine andere Sprache. In der Nähe gibt es nichts, wo wir uns mit irgendetwas beschäftigen können. Wir sind eigentlich die ganze Zeit im Haus, schlafen oder essen. Unterhalten kann ich mich mit meinen Mitbewohnern nicht.

Kazai: Ich habe gefragt, ob ich im Flüchtlingslager arbeiten darf. Es sind ja so viele Sachen kaputt. Mir wurde dann gesagt, dass ich keine Arbeitserlaubnis habe und nicht bezahlt werden kann. Das war mir aber egal, ich wollte kein Geld. Ich wollte nur eine Beschäftigung.

Deutsche Kinder wollen Astronaut oder Fußballer werden. Hatten Sie auch solche Träume, ist das bei einer Kindheit im Krieg möglich?

Mokhtari: Ich wollte immer in einem sicheren Land leben, wo ich mit meiner Familie glücklich werden kann.

Seko: Ich möchte mein Studium beenden und ein normales Leben führen. Ich kenne Afrika und würde gerne Projekte machen, die mit Afrika zu tun haben. Am liebsten wäre ich Diplomat.

Dossier Flucht und Asyl

Weltweit sind etwa 65 Millionen Menschen auf der Flucht. Auch in Bayern suchen viele Schutz. Wie geht es den Flüchtlingen hier? Welche Erfahrungen machen Ehrenamtliche in der Flüchtlingsarbeit? Lesen Sie das und mehr in unserem Dossier "Flucht und Asyl" .

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