Fünf Tage und fünf Nächte machten sie zu einer Person der Zeitgeschichte. Im Oktober 1977 war Gabriele Dillmann Stewardess an Bord der "Landshut". Vier palästinensische Terroristen kaperten das Flugzeug mit 82 Passagieren, töteten den Flugkapitän. Dillmann, damals 23 Jahre alt, versorgte trotz ständiger Todesdrohung aufopfernd die Geiseln – bis zur Befreiungsaktion auf dem Flughafen Mogadischu (Somalia). Sie gab ihren Beruf als Flugbegleiterin auf, heiratete einen Lufthansa-Piloten, studierte Bildhauerei. Heute lebt und arbeitet Gabriele von Lutzau im hessischen Michelstadt nahe der Grenze zu Bayern.

Bildhauerin Lutzau arbeitet mit Holz

Ihr Material ist Holz. Aus knorrigen Baumwurzeln oder meterhohen Thujastämmen schafft sie ausdrucksstarke Plastiken: "Wächter" heißen sie, "Lebenszeichen" oder "Fiederungen", oft geflügelte Figuren, die an Engel oder Wesen aus antiken Mythen erinnern. Ihre Werkzeuge sind Kettensäge und Flammenwerfer. Mit dem Feuer schwärzt die Künstlerin das bearbeitete Holz, "eine Gratwanderung zwischen Färben und Verbrennen, zwischen Skulptur und Asche", wie es in einem Katalog heißt. Im Andenken an die Opfer des Anschlags in Oslo und des Massakers auf der Insel Utøya im Jahr 2011, bei denen der Rechtsextremist Anders Breivik insgesamt 77 Menschen tötete, schuf sie 77 "Seelenvögel".

"Die Macht der Leichtigkeit, der Liebe und der Lust am Leben gegen die Macht des Terrors, des Todes und der Fesseln der Welt" - so hat Gabriele von Lutzau einmal die Ziele ihrer Kunst beschrieben. Und nicht nur das: Vierzig Jahre nach der Flugzeugentführung setzte sich dafür ein, die ehemalige "Landshut", die seit fast zehn Jahren auf einem Flugplatz in Brasilien steht, vor dem Verfall zu retten. Wenige Tage nach diesem Interview wurde bekannt, dass das Flugzeug von der deutschen Bundesregierung angekauft wurde: Es soll bis zum Herbst nach Deutschland gebracht und später in einem Museum in Friedrichshafen ausgestellt werden.

Gabriele von Lutzau.
Gabriele von Lutzau.

Wundervolle Freunde in Israel

Sie sind Mitglied in der Deutsch-Israelischen Gesellschaft. Hängt das mit den Ereignissen von 1977 zusammen?

von Lutzau: Wenn man auf einem deutschen Flugzeug zur Jüdin erklärt wird, eine Nummer bekommt und sich nach der Selektion selbsttätig zur Erschießung melden soll, beginne zumindest ich, mich für diesen Stamm, dem ich angehören soll, zu interessieren. Dabei fand ich wundervolle, humorvolle und kluge Freunde. Ich liebe auch das Land Israel, in dem dem Besucher alle paar Minuten die Bibel über den Weg läuft.

Jetzt engagieren Sie sich dafür, die ehemalige "Landshut" als Museum aus Brasilien nach Deutschland zurückzubringen. Das Flugzeug haben Sie kürzlich als "tapfere Maschine" bezeichnet.

von Lutzau: Die Maschine hat so viel mitgemacht wie wir und hat nie aufgegeben. Sie war die 88. Geisel.
Nach der Landung in Aden waren die Triebwerke voller Sand, Steinchen und Löschschaum. Als wir weiterfliegen MUSSTEN, weil die Terroristen uns sonst erschossen hätten, flog sie. Mit heißen Triebwerken, aber sie flog.
Sie hat es nicht verdient, abgewrackt und verschrottet zu werden.

Den Beinamen "Engel von Mogadischu" hören Sie nicht so gern ...

von Lutzau: Ich bin ein empathischer Mensch. Das war ich auch schon mit 23. Mir reicht das. Und der Titel kommt von der Bild-Zeitung ...Ich murmel dann meist mit zusammengebissenen Zähnen und einem Seufzen: Heldengedenktag. Dann mach ich ein freundliches Gesicht und bin höflich.

Wie haben Sie den Weg zur Kunst, zur Bildhauerei gefunden?

von Lutzau: Als Ausdrucksform meines Inneren. Jede Skulptur ist ein Stück meiner Seele. Der ganze Weg ist zu lang. Kann ich am Telefon erzählen.

Die Entführung und Befreiung der "Landshut" liegt nun 40 Jahre zurück. Welche Bilder sind Ihnen heute noch am intensivsten präsent?

von Lutzau: Das Klicken des Notausstiegs und mein Sprung in die Freiheit. Zumindest konzentriere ich mich auf diese Bilder.

Wenn Sie zurückblicken: Was hat Sie in dieser extremen Ausnahmesituation so stark gemacht?

von Lutzau: Das ist einfach meine Natur. Auch schon mit 23.
Edelstahlkern. ;-)

Wie haben Sie diese Erlebnisse persönlich verarbeitet?

von Lutzau: Durch die Beraterfunktion bei dem Film "Todesspiel" von Heinrich Breloer. Das war die Überlagerung der Erinnerung durch harmlose Spielszenen.

Was empfinden Sie heute für die Terroristen? Kommt Vergebung – wie auch immer – für Sie infrage?

von Lutzau: Nein.

Unter der Kanzel der Bayreuther Stadtkirche: ein "Gefieder", entstanden aus den Resten einer entwurzelten Linde. Im Hintergrund eine Gruppe der "Lebenszeichen".

Nicht so hoch fliegen, dass man sich verbrennt

In Ihrem "zweiten Leben" als Künstlerin machen Sie Flügelwesen auf unterschiedlichste Art zum Thema. Federn, Flügel, Vögel, der gescheiterte "fliegende Mensch" Ikarus – was fasziniert Sie an dieser Symbolik? Und was wünschen Sie sich, was der Betrachter darin sieht?

von Lutzau: Freiheit, und doch dabei nicht so hoch zu fliegen, dass man sich verbrennt. Den Mittelweg wählen. Nicht zu nahe an Extreme.

Ihre "Seelenvögel" und viele Ihrer "Wächter" scheinen Mittler zwischen Erde und Himmel, oder anders gesagt: zwischen einem Diesseits und einem Jenseits, zu sein – man könnte sie auch als Engel interpretieren. Steckt darin im weitesten Sinn auch eine religiöse Botschaft?

von Lutzau: Ja. Trost. Hoffnung. Liebe. Freiheit. Der Glaube, dass der Tod nicht das Ende ist.

Kettensäge und Flammenwerfer sind nicht gerade das Werkzeug, das man sich für eher filigran besetzte Themen vorstellt. Was steckt in dieser Art, Holz zur Kunst zu machen?
von Lutzau: Das Bezwingen eines mörderischen Gerätes um mit seiner Hilfe Schönes zu schaffen.

Ihre "Seelenvögel" haben Sie den 77 Opfern des Mörders Anders Breivik gewidmet. Wie weit ist der Plan gediehen, sie auf der Insel Utøya, dem Ort des Massakers, aufzustellen?

von Lutzau: Die Norweger wollen es leider nicht. Ich bin Deutsche. Und das wurde mir auch so gesagt.

 

Die Eröffnung der Ausstellung in Bayreuth (22. Juli 2017, d. Red) fiel mit dem 6. Jahrestag des Massakers in Norwegen zusammen, zugleich mit dem 1. Jahrestag des Amoklaufs in München. Was kann Kunst gegen Gewalt ausrichten - oder was nicht?

von Lutzau: Sie kann nur interpretieren. Aufzeigen. Verdeutlichen. Sinnbilder schaffen. Gute Kunst kann Zeichen setzen.
Kunst ist immer auch politisch. Solange es nicht hübsche Blumenbildchen in Essig und Öl sind.

Gabriele von Lutzau - Ausstellung.

Gottes Bodenpersonal ist öfter ein Problem

Sie sind evangelisch, bezeichnen sich selbst als „großer Zweifler“. Was ist am Christentum (oder anderen Religionen), woran sie zweifeln?

von Lutzau: Ich hab kein Problem mit dem lieben Gott. Wir sind uns irgendwie einig. Das Bodenpersonal ist öfter ein Problem für mich. Kirche als Institution. Dogmen. Unbefleckte Empfängnis. Jungfrau Maria. Übrigens ein Übersetzungsfehler aus dem Hebräischen.   Aber auch da kommt es auf die Pfarrerin oder den Pfarrer an. Ich diskutiere mit meinen diversen Pfarrerfreunden sehr gerne über Zweifel und Rituale. Kommunion. Dies ist mein Blut. Dies ist mein Fleisch. Bin ich Kannibale? Es war ein Sedermahl. Jesus war Jude. Das würde zu weit führen... da geht dann die Diskussion los. Ich komme aus einer Generation, da war ein gelungener Abend sich die Köpfe heiss zu reden. Wir waren politisch und streitbereit. Heute leben viele jungen Leute von Essstörungen zu Essstörung. Die Lust an der Beschränkung. Wir freuten uns an jedem guten Essen. Beim Diskurs.


Die Bayreuther Ausstellung heißt „"Wider alle Anfeindungen"“: Was sind diese Anfeindungen? Und wie wehren Sie sich?

von Lutzau: Siehe oben. Nicht alles in kirchlichen Ritualen gefällt mir.
 

Zuletzt: Ihr ganz persönlicher Wunsch für die Zukunft?
von Lutzau: Überleben um noch mehr Enkelkinder zu erleben. Kunst machen können, bis ich nicht mehr mag. Ausstellungen, Freunde, Lachen und die Lust am Leben nie zu verlieren.

Vor der Stadtkirchenorgel schwebt Gabriele von Lutzaus zweieinhalb Meter hoher "Flügelmantel" frei im Raum.

Vor 40 Jahren: die "Landshut" und der "deutsche Herbst"

Die Entführung der Lufthansa-Maschine "Landshut" war ein einschneidendes Ereignis im "Deutschen Herbst" 1977. Bei Terroranschlägen der linksextremistischen Gruppe "Rote Armee Fraktion" (RAF) waren bereits zahlreiche Menschen getötet worden. Um die inhaftierten RAF-Führungsmitglieder freizupressen, wurde am 5. September der damalige Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer von Terroristen verschleppt; die Entführung der "Landshut" am 13. Oktober durch Mitglieder der "Volksfront zur Befreiung Palästinas" sollte dieser Forderung Nachdruck verleihen. Gekapert wurde die Maschine nach dem Start auf Mallorca; der dramatische Irrflug führte über Zypern, Bahrain, Dubai und Aden nach Mogadischu. Am 18. Oktober stürmte die deutsche Sondereinheit GSG9 das Flugzeug und befreite die Geiseln; drei der vier Terroristen starben bei dem Einsatz. Noch am selben Tag nahmen sich die RAF-Mitglieder Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe im Gefängnis Stuttgart-Stammheim das Leben. Kurz danach wurde Schleyer von seinen Entführern ermordet.