Der Verkehr schiebt sich durch die Straßen, Passanten eilen von Geschäft zu Geschäft, oberbayerische Idylle geht anders. Doch hier oben, vier Stockwerke über dem Trubel der Rosenheimer Innenstadt, herrscht Ruhe. Vom Wohnzimmer aus sieht man die Berge. Nur die Bilder, die Rücken an Rücken an der Wand lehnen, zeugen davon, dass das Ehepaar Schroeder erst seit zehn Tagen hier seinen Ruhestandssitz bezogen hat. Sechs Jahre zu früh und keineswegs freiwillig: Hans Martin Schroeder ist schließlich erst 59 Jahre alt und Pfarrer mit Leib und Seele.

Doch im Sommer 2016 hatte er ein einschneidendes Erlebnis. Bei einer Donau-Radtour machte er Halt in Wien – und fand trotz Stadtplan nicht wieder an den Fluss. »Das ist schon eine Leistung«, sagt der Pfarrer und lacht. Schon zuvor war ihm aufgefallen, dass er sich Termine nicht mehr merken konnte, dass seine Handschrift schlechter wurde, dass stressige Situationen ihn lähmten. Er dachte an Überlastung, an Burn-out, daran, dass eine Kur nicht schlecht wäre. An Alzheimer dachte er nicht.

»Coming out« vor der Gemeinde

Sein Hausarzt verwies ihn ans Institut für Schlaganfall und Demenz. Im Januar 2017 schließlich die Diagnose: Alzheimer. Als sich der erste Schock löste, brachen die Dämme. »Ich habe jeden Tag geweint«, sagt Elke Schroeder. Weil ihr Leben verloren ging, weil ihr Mann bald nicht mehr er selbst wäre? »Über seine Verletzlichkeit. Darüber, dass etwas sehr Kostbares verloren geht«, versucht die 68-Jährige die Trauer zu beschreiben.

Das Ehepaar beschloss, mit der Diagnose offen umzugehen. »Ich hatte keine Lust rumzueiern«, sagt Hans Martin Schroeder. Die Vorstellung, dass die Leute im Gottesdienst mitzählen, wie oft er sich verspricht, war ihm ein Graus. Ihr »coming out« haben beide nicht bereut: »Wir haben sehr positive Resonanz und viel Zuspruch bekommen.« Auch die Entscheidung zum Vorruhestand fiel rasch: »Ich möchte mein Leben ohne Druck leben«, sagt er.

Dennoch wiegt für den Vollblut-Pfarrer die Wehmut über das Berufsende momentan fast schwerer als die Sorge um die Zukunft. Schroeder tröstet sich damit, dass er vielleicht in Rosenheim dann und wann aushelfen kann. Was geht: frei predigen, Gottesdienst feiern. Was nicht geht: zu viele Zettel am Pult, Termindruck, Verwaltungskram. Das Wörtchen »noch« steht bei Elke Schroeder übrigens auf dem Index. Sie will der Krankheit in ihrem Leben nicht mehr Platz als nötig einräumen.

Ihr Mann wiegt den Kopf: »Ich tappe ja selbst in diese Falle. Alzheimer begleitet mich. Es gibt Zeiten, wo ich ihn nicht spüre, und Zeiten, wo ich ihn merke.« Wenn die beiden »vom Alzheimer« sprechen, klingt es, als hätte sich ein ungebetener Dritter bei ihnen eingenistet, von dem man nie weiß, in welchem Zimmer er sich als Nächstes breitmacht. Und als wäre es die Kunst, sich die verbliebenen Räume so gemütlich wie möglich einzurichten.

Den Dienst quittiert für ein Leben im Augenblick

Detaillierte Patientenverfügungen sind verfasst, mit den fünf erwachsenen Kindern, der Familie und den engsten Freunden ist alles besprochen, die Therapie, die die Krankheit verzögern soll, läuft. Nun versuchen beide, sich nicht zu viele Gedanken über die Zukunft zu machen. »Es gibt so viele Verläufe bei Alzheimer«, sagt Hans Martin Schroeder, »vielleicht werde ich einfach nur doof, aber freundlich.« Seine Frau ist froh, dass bei Alzheimer –

anders als bei anderen Demenzerkrankungen – keine Wesensveränderungen zu erwarten sind: »Wenn mein Mann misstrauisch oder aggressiv mit mir wäre, das wäre schrecklich.« Ansonsten gelte mehr denn je: Das Leben findet jetzt statt. »Durch die Krankheit hat jeder Augenblick eine Tiefe bekommen«, sagt Elke Schroeder. Ihre Hoffnung ist, dass sie beide hineinwachsen in die Krankheit und lernen, mit ihr umzugehen.

Ob er Angst hat? Hans Martin Schroeder denkt lange nach und schüttelt langsam den Kopf. »Ich bin dankbar und froh. Ich möchte meine Freunde und Vertrauten bewusst pflegen. Ich habe ein großes Gottvertrauen.« Mehr praktische Gedanken macht sich seine Frau: »Strukturen sind wichtig im Ruhestand, mit Alzheimer noch mehr.« Sie denkt an den Alltag mit kleinen Kindern, die Wochentage mit bestimmten Ereignissen verbinden: Die Müllabfuhr kommt donnerstags, am Sonntag brennt die Kerze auf dem Tisch. Vielleicht kehrt manches davon in ihr Leben zurück.

Und noch eins ist zurückgekehrt: Der zweite Trauspruch, den der damalige Pfarrer bei der Hochzeit vor 27 Jahren eigenmächtig ausgesucht hatte. »›Singt dem Herrn ein neues Lied, denn er tut Wunder‹ – daran muss ich jetzt oft denken«, sagt Elke Schroeder. Dem Leben ein neues Lied singen: Der Dritte im Bund fordert das ein.