Wenn Ralf W. morgens aufwacht, führt ihn sein erster Gang zum Computer. Stundenlang klickt er sich durch Online-Spiele, kann sich kaum losreißen. »Die anderen Dinge, die ich tagsüber machen will, scheinen so schwierig und unerreichbar«, erzählt er. »Ich saß auch schon mal vier Stunden lang am Rechner und hab’s nicht fertiggebracht, mir einen Kaffee zu machen.« Er empfinde seine Sucht auch körperlich und beschreibt eine Leere, ein Gefühl innerer Unruhe: »Wenn ich vor dem Rechner sitze, ist das dann weg.«

Unter »Internetsucht« fassen Forscher mehrere Verhaltensweisen zusammen. Meist geht es dabei um junge Computerspieler, die sich in Online-Rollenspielen verlieren. Es betrifft aber auch Menschen, die im Internet ziellos Waren bestellen, Pornoseiten aufrufen, in sozialen Netzwerken surfen oder Geld bei Glücksspielen verwetten. Als internetabhängig gelten in Deutschland nach Angaben der Bundesdrogenbeauftragten Marlene Mortler (CSU) derzeit rund 560 000 Menschen – mit hoher Dunkelziffer.

Die Grundlagen einer Sucht werden häufig in der Kindheit gelegt. Der Psychologe Kai Müller, der am Kompetenzzentrum Verhaltenssucht der Uniklinik Mainz forscht und therapiert, nennt als Gründe die emotionale Vernachlässigung durch die Eltern, fehlende Bindungen oder Traumata.

Süchtig nach bestimmten Inhalten

Introvertierte, schüchterne oder misstrauische Menschen würden besonders häufig den Verlockungen von Computerspielen oder sozialen Netzwerken erliegen, wo sie nur mit dem Bildschirm kommunizieren müssten. Auch Ralf W., 51 Jahre alt, berichtet, seine Mutter habe ihn wenig wertgeschätzt und als Dreijährigen oft alleine zu Hause gelassen. Eine Vaterfigur gab es nicht.

Die Wartelisten für Patienten, die eine Therapie antreten wollten, seien lang, beklagt Müller. Aber nach wie vor ist Internetsucht als Krankheit nicht anerkannt. Wahrscheinlich werde sie aber in diesem oder im nächsten Jahr in den Leistungskatalog aufgenommen. Bislang behelfen sich Therapeuten damit, dass sie bei ihren Patienten eine Impulskontrollstörung diagnostizieren.

Internetsucht ist nicht leicht zu behandeln. Bei einer stoffgebundenen Sucht wie der nach Alkohol oder Heroin können Betroffene leichter abstinent bleiben. Das Internet dagegen ist Teil des Alltags.

Therapie für Alkoholiker in einer Bar?

In dem man aber auch Hilfe findet: Das Projekt »webC@re« der Hessischen Landesstelle für Suchtfragen etwa ist eine Online-Selbsthilfegruppe für Internetsüchtige. Das sei keineswegs so, als therapiere man Alkoholiker in einer Bar, sagt Patrick Durner von »web-C@are«. »Man ist nicht süchtig nach dem Internet, sondern nach bestimmten Inhalten.« Ein handfester Vorteil sei die virtuelle Selbsthilfegruppe für Sozialphobiker, erklärt Durner. Sie könnten sich Hilfe suchen, ohne ihre Hemmung überwinden zu müssen.

Bei »webC@re« gehe es um Selbstreflektion. Die Teilnehmer sprechen über ihre Probleme und wie sich ihre Sucht entwickelt. Problemeinsicht ist dafür die Grundvoraussetzung. Das ist einer der Gründe, warum eher junge Erwachsene als Jugendliche Klienten von »webC@re« sind. Der Leidensdruck stelle sich oft erst nach Jahren ein, so Durner.

»Jüngere sind nicht weniger gefährdet, aber die schwerwiegendsten Fälle finden wir im jungen Erwachsenenalter zwischen 17 und 29«, sagt auch der Mainzer Psychologe Müller.

Ralf W. ist schon seit längerer Zeit in Therapie. Er ist noch nicht weg vom Online-Spielen, arbeitet aber mittlerweile in einer Maßnahme beim »Frankfurter Verein«, vier Tage die Woche jeweils vier Stunden lang. Es helfe ihm, seinen Tagesablauf zu strukturieren. Allerdings setze er sich sofort vor den Computer, wenn er nach Hause kommt. Aber vor kurzem, als schönes Wetter war, sei er mal in den Park gegangen.

 

Buchhinweis: Werner Gross: »Was Sie schon immer über Sucht wissen wollten«; Springer-Verlag 2016; 156 Seiten; 19,99 Euro

Selbsttest Internetsucht bei »webC@re«: hls-webcare.org

 

 

INTERNETSUCHT

Was Eltern tun können

  • Sitzt das Kind stundenlang vor dem Rechner, sollten Eltern nicht in Panik ausbrechen, rät der Medienpädagoge Patrick Durner von der Hessischen Landesstelle für Suchtfragen. Oft sei das nur ein exzessives Ausprobieren, das sich mit fortschreitendem Alter häufig wieder gebe. Wenn der Sohn oder die Tochter eine erste Partnerschaft hat, sei der Computer längst nicht mehr so interessant.
  • Eltern sollten vor allem sensibel für ihre Kinder sein und wissen, ob es ihnen gutgeht. Sie sollten nachfragen, was genau das Spielen oder Chatten ihrem Kind gibt, welches Defizit sie damit ausgleichen. Darüber hinaus sei die Medienerziehung wichtig. Kinder müssten erst lernen, wann und wie oft sie Online-Medien nutzen können.
  • Durner rät Eltern davon ab, bei Problemen Fakten zu schaffen: »Bitte nicht einfach den Stecker ziehen. Das eskaliert oft.«

Selbsttest

www.ins-netz-gehen.de

 

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