Ich habe mir immer gewünscht, meine Eltern mögen möglichst lange leben. Zuerst sollten sie so lange leben, bis ich meine Berufsausbildung beendet hätte. Dann so lange, dass sie noch ihre Enkelkinder erleben würden. Dann bis die Enkelkinder alt genug wären, dass sie sich noch an Opa und Oma erinnern würden.

Im Hintergrund war immer die Vorstellung, wenn es so käme, würde ich sie in Frieden sterben lassen können. Nun sind all diese Wünsche in Erfüllung gegangen. Ja, noch mehr. Meine Eltern konnten beide ihre 80. Geburtstage feiern und erleben, wie ihre Enkelkinder das Elternhaus verließen und ihr Studium beendeten.

Vor ein paar Wochen sind sie dicht hintereinander gestorben. Beide nach kurzer Erkrankung. Bis zum Schluss wurden sie gut betreut, und wir konnten sie bis in die letzten Stunden hinein besuchen. Mein erstes Gefühl war denn auch: Ich bin versöhnt und dankbar, und darin wurde ich von allen Seiten bestärkt. Zu meiner eigenen Überraschung setzte allerdings bald eine heftige Trauer ein. Verbunden mit Weinattacken, mit schlaflosen Nächten, mit einem Suchen nach Spannungen und Versäumnissen. Momentan herrscht einfach ein großes Durcheinander.

Herr S.

Es ist ja alles einfühlbar. Auf der einen Seite eine ständige Wunscherfüllung. Über Jahrzehnte hinweg. Und zum Schluss ein Sterben ohne langes Leiden. Es ist so einfühlbar, dass Sie zunächst dankbar und versöhnt sind und darin von überall her bestärkt werden. Ideal, zumindest vordergründig.

Dann aber gibt es auch einen Hintergrund: Intensive Jahrzehnte waren das mit Wünschen und Bangen, Erfüllung – und neuem Wünschen und Bangen. Sie beschreiben die einzelnen Stationen: Berufsausbildung, Partnerschaft, Familiengründung, die Kinder werden groß. Das leere Haus ("empty nest") und das Überschreiten der Lebensmitte gehören zu den großen Abschiedserfahrungen eines Lebens. Und jetzt der Tod beider Eltern. Das ultimative Ende des Kindseins mit allen möglichen Erinnerungen. Das Übrigbleiben wird erfahrbar und die Begrenztheit des eigenen Lebens.

Ein sehr einfacher Vorder- und ein sehr vielgestaltiger Hintergrund. Da erscheint doch das Durcheinander sinnvoll. Es verlangt nach Aufmerksamkeit und verhindert so, dass Sie einfach zur Tagesordnung übergehen. Ein paar Achtsamkeitspunkte:

•   Vielleicht will noch einmal ausgesprochen werden, wofür im Einzelnen Sie dankbar sind. Stift und Papier könnten dabei gute Dienste leisten: "Danke, Vater, für ...", "Danke, Mutter, für ...". Möglicherweise auch: "Danke, lieber Gott, für ...".

•   Vielleicht lassen sich manche Versäumnisse noch einmal ins Gedächtnis rufen und werden konkret: "Es tut mit leid, dass ..." oder "Ich vergebe euch, dass ..." Es ist die Chance, loszulassen, was spannt, die Chance, Grübeleien zu beenden und Frieden zu finden.

•   Zum Hintergrund gehört schließlich die Frage: Was steht für Sie an? An Neuorientierungen? Wie möchten Sie in den Nachmittag und Abend Ihres Lebens gehen? Welche Ressourcen helfen Ihnen dabei? Welche Menschen? Das Durcheinander wird sich auflösen, wenn Sie achtsam sind für das, was es beinhaltet.