Sabine Tschainer hat 2001 die Agentur "aufschwungalt" gegründet, die Seminare und Beratung für Pflegeheime und Kommunen rund um die Themen Altern, Pflegeentwicklung und Demenz anbietet. Die 52-jährige Diplom-Psychogerontologin hat evangelische Theologie studiert und war drei Jahre lang Erste Vorsitzende der Deutschen Alzheimergesellschaft.


 

"Demenz ist die Pest des 21. Jahrhunderts": Das ist als Schlagwort vom Londoner G8-Gipfel im Dezember 2013 hängen geblieben, bei dem sich die Industriestaaten erstmals mit dem Thema "Demenz" beschäftigt haben. Was ist wichtiger: Dass Forscher Medikamente gegen die Krankheit finden oder dass die Gesellschaft ihre Haltung ändert?

Tschainer: Es wäre ein Glücksfall, wenn die Forschung eine wirksame Therapie entwickeln könnte. Aber in den nächsten zehn Jahren ist das eher unwahrscheinlich. Deshalb ist es nötig, dass sich die gesellschaftliche Haltung zur Demenz ändert. Demenz hat mit Kontrollverlust zu tun. Wir sind heute alle Kontrollfreaks, wir haben alles im Griff. Und dann schlägt diese Krankheit zu. Das macht Angst. Deshalb spalten wir das Thema ab und drängen die, die uns den Kontrollverlust der Demenz vor Augen führen, an den Rand

 

Wie lässt sich das ändern?

Tschainer: Durch mehr Information. Je mehr die Menschen über die Krankheit wissen, desto eher verlieren sie ihre Ängste.





Aber Informationen über Demenz und Alzheimer gibt es doch schon seit Jahren in Fülle!

Tschainer: Richtig. Aber die meisten Menschen überlesen diese Informationsfülle einfach, solange sie nicht selbst betroffen sind. Demenz ist in den meisten Familien ein Tabu. Lieber sagt man "Der war halt schon immer ein bisschen vergesslich", als dass man sich fragt, ob da eine beginnende Demenz vorliegt. Gute Erfahrungen haben wir mit kleinen Vortragsreihen gemacht, vor allem auf dem Land. Am besten ist es, man gewinnt dafür eine Dorfgröße wie den Pfarrer oder die Vorsitzende der Landfrauen, die sich das Thema zueigen machen. Oft trauen sich Angehörige dann erstmals, Hilfe anzunehmen.

Dossier

Pflege & Pflegende

Rund drei Millionen Menschen in Deutschland sind pflegebedürftig und im Alltag auf Unterstützung angewiesen. Wie beantrage ich Pflegegeld bei der Krankenkasse? Wie gehe ich mit einem dementen Angehörigen um? Und wo bekomme ich als Pflegender Hilfe? Das uns vieles mehr erfahren Sie in unserem Themen-Dossier "Pflege & Pflegende".

Was brauchen Menschen mit Demenz?

Tschainer: In erster Linie Verständnis und Respekt. Ein Beinamputierter bekommt eine Prothese, damit er sich weiter fortbewegen kann. Genauso brauchen Demenzkranke eine Art prothetische Umgebung, damit sie sich wohlfühlen. Man sollte Demenzkranke nicht korrigieren - es beschämt sie, genauso wie die Freundin, zu der ich sage: "Wie schaust du denn heute wieder aus?" Man sollte ihre Fähigkeiten trainieren, ohne sie zu überfordern: selbst essen, Schuhe anziehen, Spazieren gehen. Manchmal braucht ihr Gehirn nur einen Schubs. Gut ist es, Demenzkranke ins Alltagsleben einzubinden, ohne Leistung in unserem Sinn zu erwarten. Einen Korb Wäsche zusammenzulegen, schafft eine Demenzkranke vielleicht nicht mehr. In einem Korb mit Stoffresten herumzusortieren, gibt ihr aber vielleicht das Gefühl, fleißig zu sein.





Wenn ich Verhaltensweisen nicht korrigieren soll, wie soll ich dann mit den Marotten umgehen, die Demenzkranke manchmal entwickeln?

Tschainer: Solche "Marotten" sind oft Strategien zur Alltagsbewältigung. Wir nennen das die Fähigkeit zur Kompensierung, und die ist eine große Ressource. Wenn die ehemals so sparsame Großmutter plötzlich jeden zweiten Tag mit dem Taxi zum Supermarkt fährt, ist das nicht Geldverschwendung, sondern nur eine neue Taktik, weil sie sich den Weg nicht mehr merken kann. Und der Vater, der neuerdings voll bekleidet schlafen geht, vermeidet damit am nächsten Morgen die Kritik des Pflegediensts, weil er sich nicht ordentlich angezogen hat. Das muss man erstmal positiv würdigen - bevor man dann gemeinsam nach einem Weg sucht, wie man zum Beispiel die Frage der Hygiene löst. Wichtig ist auch zu wissen, dass sich Demenzkranke gedanklich oft in ihren ersten 30 Lebensjahren bewegen. Wenn ich weiß, wie der Alltag meiner 95-jährigen Mutter vor 65 Jahren ausgesehen hat, dann kann ich besser mit "neuen" Angewohnheiten umgehen. Und ich weiß dann auch, warum sie Schweinsbraten mit Knödel isst, aber keine Lasagne - die gab es nämlich damals noch gar nicht.





Was ist für pflegende Angehörige wichtig?

Tschainer: Sie brauchen mindestens einen halben Tag pro Woche für sich. Sonst lässt sich die Betreuung von Demenzkranken nicht aushalten. Deshalb sollten sie sich früh angewöhnen, "ihren" Kranken in eine Betreuungsgruppe zu geben, damit er sich auch in dieser Umgebung wohlfühlt. Viele glauben, sie müssen alles alleine schaffen. Diesen Perfektionswahn muss man überwinden, denn man tut den Demenzkranken damit nichts Gutes. Je gelassener man selbst ist, desto besser für den Kranken. Außerdem sollte man die Frage nach Betreuungsvollmacht und Patientenverfügung klären, bevor eine Demenz am Horizont auftaucht

 

Wie sähe eine Gesellschaft aus, in der Menschen mit Demenz ihren Platz haben?

Tschainer: Ich sag es mal despektierlich: Früher gab es den Dorftrottel, der zwar verspottet wurde, aber seinen Platz im System hatte. Die Utopie wäre: Wir brauchen den Dorftrottel wieder, aber ohne Verspottung. Demenzkranke müssen im Alltag normal werden. Wenn junge Leute grüne Haare haben oder bei minus 20 Grad mit Sandalen rumlaufen, wird das ja auch - leise seufzend - toleriert. Diese Toleranz für die Jungen brauchen wir auch bei den Alten.

Link-Tipp


ALZHEIMER GESELLSCHAFT: Die Seite www.deutsche-alzheimer.de versammelt alle wichtigen Informationen rund um das Thema Demenz. Auch hier finden Betroffene und Angehörige nach Postleitzahlen sortiert die Adressen von Spezialkliniken, Selbsthilfegruppen und Gedächtnisambulanzen oder Memorykliniken zur Diagnose von Hirnleistungsstörungen.


HOSPIZARBEIT: Eine Überblick über die bayerischen Hospizvereine gibt www.bayerische-stiftung-hospiz.de


TELEFONSEELSORGE: In akuten Notsituationen helfen auch die Mitarbeiter der Telefonseelsorge mit Ratschlag und Kontaktadressen weiter: (0800) 111 0 111 und (0800) 111 0 222. Anruf kostenfrei.

BÜNDNIS GEGEN DEPRESSION: Unter www.buendnis-depression.de finden Hilfesuchende Informationen zu Depressionen in verschiedenen Lebensaltern und -situationen, Broschüren und DVDs und Ansprechpartner vor Ort. Die Internetseite www.deutsche-depressionshilfe.de bietet außerdem eine nach Postleitzahlen sortierte Suchfunktion für Krisendienste und Spezial-Kliniken sowie einen Ratgeber für Angehörige an.

Was macht das Altern leichter?

Tschainer: Alt werden hat mit Verlusterleben zu tun. Ich muss mich von der Erwerbsarbeit verabschieden, vielleicht auch von manchen körperlichen Fähigkeiten. Es ist gut, sich früh im Abschiednehmen zu üben, dann komme ich später mit Veränderungen besser klar. Es ist aber genauso wichtig, früh darauf zu schauen, was ich durch das Alter gewinne: mehr Gelassenheit vielleicht, oder dass ich nicht mehr so abhängig bin von der Meinung anderer.





Wie vermeiden Angehörige, aber auch alte Menschen selbst, aus Überforderung oder Frustration in eine Depression zu rutschen?

Tschainer: Man muss unterscheiden zwischen einer pathologischen Depression und depressiven Verstimmungen. Zehn Prozent der über 65-Jährigen haben Depressionen unterschiedlichen Ausmaßes. Sie müssen so früh wie möglich zum Facharzt, weil Depressionen oft mit geistigen Leistungseinbußen einhergehen, die leicht mit Demenz verwechselt, aber gut behandelt werden können. Wer unsicher ist, kann in sogenannten Memorykliniken abklären, ob es sich um Demenz oder eine Depression handelt. Bei depressiven Verstimmungen hilft oft der Austausch in Selbsthilfegruppen - und die Erkenntnis, dass ich eine gewisse Selbstdisziplin brauche, um mich davon zu befreien. Für pflegende Angehörige ist Entlastung der Schlüssel zur psychischen Gesundheit.





Woran erkenne ich, dass mein alter Angehöriger möglicherweise depressiv ist?

Tschainer: Erste Anzeichen sind Antriebslosigkeit, Grübelei, morgens schwer in die Gänge kommen, Dinge, die man gern tut, vernachlässigen - dann sollte man den Arzt aufsuchen.





Und wenn der alte Vater beim Stichwort "Depression" gleich mal dicht macht?

Tschainer: Eine gute Möglichkeit, um ins Gespräch zu kommen, ist, erst mal eine Routineuntersuchung vorzuschlagen oder auf Menschen im Freundeskreis zu verweisen, die so eine Untersuchung schon hatten. Manchmal nützt auch eine Respektsperson wie der alte Hausarzt, der sagt: Das machst du jetzt. Wenn sich der Patient mit Verdacht auf eine Depression partout nicht auf einen Arztbesuch einlassen will, muss man sich als Angehöriger innerlich abgrenzen, damit man es aushält.

Buch-Tipp

Arno Geiger: Der alte König in seinem Exil

In seinem Buch "Der alte König in seinem Exil" erzählt Arno Geiger von seinem Vater, dem die Erinnerungen langsam abhanden kommen, dessen Orientierung in der Gegenwart sich auflöst. Er beginnt, seinen Vater von Neuem kennenzulernen. Ein leichtes und oft auch komisches Buch über ein Leben, das sich vielleicht nur wenig unterscheidet von dem Leben, das wir alle tagtäglich führen.

Hanser,  2011

ISBN 978-3-446-23634-9

17,90 €

Ein Mensch, vom Leben müde, sagt: Ich mag nicht mehr, ich möchte sterben. Wie soll man damit umgehen?

Tschainer: Man sollte Verständnis signalisieren und nicht sagen: Das wird schon wieder. "Der Tage sind genug", heißt es in der Bibel - darüber kann man reden. So ein Gespräch wird den Wunsch zu sterben nicht verstärken. Alte Menschen sprechen über so ein Thema nur so lange sie möchten. Dann kommt oft ein abrupter Themenwechsel: "Die Fenster könnten auch mal wieder geputzt werden", oder so ähnlich. Wichtig ist, diesen Themenwechsel mitzumachen. Was uns fehlt, ist ein natürlicher Umgang mit Sterben und Tod. Ein alter Mensch hat ein Recht darauf, zu sterben. Wenn also ein Pflegebedürftiger aufhört zu essen, sollten wir das zulassen und nicht zur Magensonde greifen. Niemand wird am Ende des Lebens verhungern oder verdursten - der Körper schaltet von selbst maßvoll ab. Damit man nicht das Gefühl hat, etwas zu versäumen, sollte man sich Hilfe von Hospizvereinen holen.





Und wenn ein alter Mensch von Selbstmord spricht?

Tschainer: Suizid ist ein Thema: Die höchste Selbstmordrate bei Männern ist um das 80. Lebensjahr. Je konkreter jemand einen Suizid plant und davon spricht, desto näher ist der Zeitpunkt der Umsetzung. Krisendienste, die Telefonseelsorge oder Bezirkskrankenhäuser mit psychiatrischer Ambulanz helfen weiter.





Das Alter meistern oder das Alter fürchten: Welche Faktoren bestimmen, in welche Richtung es geht?

Tschainer: Zum Teil ist das eine Frage der Persönlichkeit. Schauen Sie sich an, wie jemand mit 30 Jahren ist - so wird er auch mit 80 sein. Dennoch bleibt man ein Leben lang lernfähig. Es hilft, sich frühzeitig mit dem Alter auseinanderzusetzen. Will ich meine Zipperlein bejammern oder die geschenkten Jahre nutzen? Bedauere ich, mit 67 Jahren noch arbeiten zu müssen, oder sag ich: Was für eine tolle Chance? Der beste Zeitpunkt, um Pläne für sein Alter zu machen, ist mit 50. Dann kann man kleine Leuchttürme setzen, die in die Zeit jenseits der 65 ragen: weniger arbeiten, im Freundeskreis über eine Alters-WG nachdenken, einmal im Monat zum Schafkopfen gehen.





Was sollte die Gesellschaft in puncto Altern zur Kenntnis nehmen?

Tschainer: Mein Credo lautet: Das Alter ist eine gleichberechtigte Lebensspanne zu Pubertät oder Berufsphase - alle haben ihre eigenen Vor- und Nachteile. Ein guter Einstieg in Debatten zum Altwerden ist die Frage: "Willst du noch mal 15 Jahre sein?" Die meisten sagen: Bloß nicht! Eigentlich sind sich alle einig, dass sie nicht ewig leben wollen. Es ist gut, dass das Leben einen Endpunkt hat. Mit dieser Haltung kann man dann jeden Tag genießen. Hier und jetzt ist mein Leben - das macht gelassen. Ich selbst bin jetzt 52. Und ich muss sagen: Das ist die beste Zeit meines Lebens. Es ist mir noch nie so gut gegangen wie jetzt.

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