»Spiritualität, oder traditionell >Frömmigkeit< ist eine Grundhaltung des Menschen, die das ganze Leben tragen kann«, sagt der Münchner Altabt Odilo Lechner. »Der spirituelle Mensch lebt von innen her. Spiritualität bedeutet, dass mein Leben eine Richtung hat, die aus meinem Herzen, aus meiner Seele kommt.« Spiritualität ist Lechner zufolge eine unmittelbare persönliche Erfahrung, bei der das Herz angesprochen wird, bei der »etwas passiert«.

Auch das Christentum ist durchaus spirituell, wenn Glaube, Frömmigkeit und Lebensgestaltung zusammenkommen. Unter dem Begriff »Mystik« gab es schon immer Strömungen im Christentum, denen es wichtig war, Gott zu spüren und seine Liebe auch direkt zu empfinden, erklärt Bernardin Schellenberger, der viele Jahre als Trappistenmönch in einem kontemplativen Orden gelebt hat.

Dossier

Spiritualität und Mystik

In unserem Dossier »Spiritualität« finden Sie Artikel rund um die christliche Frömmigkeitspraxis. Dazu gehören Pilgern und Meditation, spirituelle Impulse und neue Formen der Gottesbegegnung. Hier geht es zum gesamten Dossier.

Herzensgebet als christiliche Meditation

Heute vermissen viele Menschen diesen direkten Kontakt zu Gott, der in einem traditionellen theorie-lastigen christlichen Gottesdienst oft zu kurz kommt. Viele suchen deshalb Halt und Kraft in buddhistischer Zen-Meditation oder hinduistischem Yoga. Doch fernöstliche Praktiken und christlicher Glaube können sich auch gut ergänzen. Hugo Makibi Enomiya-Lassalle, ein Jesuitenpater, der lange in Japan lebte, gab in den 70er Jahren die ersten Zen-Kurse in ganz Europa. Auf seine Anregung wurde das Franziskaner-Konvent in Dietfurt im Altmühltal zum ersten christlichen Zen-Zentrum in Europa.

Aber auch im Christentum gibt es viele spirituelle Techniken, die helfen, achtsam mit sich und seiner Umgebung umzugehen und stärker in der Gegenwart zu leben. So ist das Herzens- oder Jesusgebet eine 1.600 Jahre alte christliche Meditationspraxis. Wie fernöstliche Praktiken setzt es beim Körper und Atem an. Wer gerne gemeinsam mit anderen beten möchte, kann dies zum Beispiel in offenen Übungsgruppen im Spirituellen Zentrum eckstein, dem Haus der evangelisch-lutherischen Kirche in Nürnberg.
 

Pilgern ist spirituell

Andere Menschen möchten sich für ihre spirituellen Erfahrungen lieber zurückziehen. Bei vielen evangelischen Kommunitäten in Bayern gibt es Einkehrtage, wo Besucher innerlich zur Ruhe kommen können. Teilweise werden hier auch Exerzitien angeboten, sogenannte geistliche Übungen, bei denen es immer um einen Erfahrungsweg geht. Dazu gehört auch das Gespräch mit einem geistlichen Begleiter oder der Austausch in der Gruppe.

Eine spirituelle Handlung, die seit Jahren im Trend liegt, ist das Pilgern. Wer sich nicht alleine auf den Weg machen möchte, kann das auch in der Gruppe mit einem Pilgerbegleiter tun. Einer von ihnen ist Michael Kaminski, der seit Jahren mit Menschen in Umbruchssituationen unterwegs ist. Er sagt: »Umbrüche verlangen nach einer inneren Veränderung. Die äußere Bewegung des Pilgerns kann dabei den inneren Prozess anstoßen.«

»Ich kenne niemanden, der nicht spirituell wäre«

Traugott Roser, ehemaliger Professor für »Spiritual Care«

Auch in der Medizin wird die Spiritualität immer häufiger einbezogen. In München gibt es sogar einen Lehrstuhl für »Spiritual Care« an der Ludwig-Maximilians-Universität. »Spiritualität ist ein Grundbedürfnis jedes Menschen, genauso wie Nahrung und Sicherheit«, betont Eckhard Frick, ehemaliger Lehrstuhl-Inhaber. Entsprechend müsse sie auch in der Medizin berücksichtigt werden. Traugott Roser, evangelischer Pfarrer und Deutschlands erster Professor für »Spiritual Care, ergänzt: »Ich kenne niemanden, der nicht spirituell wäre.«