Geheimdienste können sich freuen: Brauchten sie früher mitunter Jahre, um das Profil eines Menschen zu erstellen, so reichen heute wenige Stunden. Unser Mobiltelefon verrät uns: Wir legen das Gerät neben unser Bett, gehen damit Joggen und auf Reisen. Bewegungsmuster, Helligkeit, Nutzungszeiten, Kameraobjektiv – alleine diese Daten geben viel von uns preis. In Kombination mit den Daten, die wir dem Gerät freiwillig anvertrauen, können präzise Persönlichkeits- und Verhaltensprofile erstellt werden.

Der gläserne Mensch ist keine Utopie mehr, sondern eine Tatsache. Dass die Gesellschaft dringend über einen ethischen Umgang mit den Daten nachdenken sollte, war eine der großen Forderungen der zahlreichen Wissenschaftler und Internet-Experten, die auf der größten deutschen Konferenz für die digitale Welt "re:publica" in Berlin sprachen.

Zwei Beispiele: In den USA erprobt die Polizei derzeit eine digitale Landkarte, die anzeigt, in welchen Stadtteilen es besonders gefährlich ist. Das Kartensystem ist jedoch trügerisch: Werden in einem Stadtteil mehr Vorfälle registriert, wird die Streife häufiger dorthin geschickt. Sehr wahrscheinlich werden in diesem Stadtteil deshalb weitere Vorfälle registriert. Der Teufelskreis ist leicht zu durchschauen – doch was passiert, wenn die Datenmengen immer unübersichtlicher werden?

Die Migrationsbehörde Frontex will künftig Gesichtsscanner für die Identitätsbestimmung einsetzen – unter anderem, um personifizierte Einlasskontrollen zu ermöglichen. Daten mögen für die Bekämpfung von Terrorismus einerseits ein großer Vorteil sein. Doch können sie in einem anderen Kontext - und in einem repressiven politischen System - schnell zu einer Gefahr für jeden einzelnen werden.

Den Schutz der Privatsphäre sieht Edward Snowden daher als ein zentrales Element im Umgang mit Daten. "Unser Privatleben ist die Initialzündung für alle weiteren Rechte", erklärte Snowden auf der re:publica in einem Interview, das live übertragen wurde. Die meisten Menschen gäben ihre Daten preis, weil sie sich sicher fühlten. Doch sei der Schutz der Privatsphäre keinesfalls selbstverständlich.

Derzeit würden privaten Daten ebenso radikal ausgebeutet wie natürliche Ressourcen. Es sei an der Zeit, die politische Kontrolle über das System wieder zurück zu gewinnen. "Ein Unternehmen wie Facebook kann uns aufgrund der Daten bislang nicht ins Gefängnis bringen. Doch wenn ein Staat beginnt, unsere Daten zu missbrauchen, wird es gefährlich", sagte Snowden und verwies auf die restriktive Internetpolitik von Ländern wie China. "Wir müssen nicht die Technologie regulieren, sondern Rechtssicherheit über unsere privaten Daten gewinnen", forderte Snowden.

"Diskriminierung und Vorurteile werden im Netz fortgeführt", so die These der us-amerikanischen MIT-Professorin Kate Crawford. Sie fordert ethische Richtlinien für den Umgang mit Daten. Denn es bestehe die Gefahr, die Maschinen mit fehlerhaften Daten zu füttern – und damit ungerechte oder diskriminierende Systeme zu tradieren. "Wer den englischen Begriff für Vorstände ‚CEO‘ in eine Suchmaschine eingibt, der wird fast ausschließlich weiße wohlhabende Männer zu Gesicht bekommen: Frauen wird damit vermittelt, dass dies keine Position ist für sie", erläutert die Professorin und erläuterte, wie stark inzwischen die Informationen je nach Nutzer ausgespielt werden. "Ungerechtigkeit und Teilhabe sind so nicht mehr möglich", so Crawford. Sie fordert mehr Transparenz bei den Algorithmen und Suchfunktionen, denn: "Computer machen Fehler, aber Menschen, die diese Computer bedienen, können die Situation verschlimmern", so ihr Fazit.

Kritik äußerte auch der Ethikprofessor Luciano Floridi. Seines Erachtens befinden wir uns in einem digitalen Baby-Boom: In weniger als einem Menschenleben habe sich das Datenwachstum vervielfacht. Dabei machten die Menschen die gleichen Fehler wie früher: "Wir betreiben einen Raubbau mit der Informationssphäre wie wir ihn früher mit der Natur betrieben haben", sagt er und fordert eine Verhaltensänderung. "Der sorgsame Umgang mit Daten muss ebenso selbstverständlich werden wie das Rauchverbot im öffentlichen Raum".

"Private Daten sind derzeit ein gefährliches Kapital" – resümierte der Berliner Datenexperte Andreas Dewes. Als Datenanalyst habe er im Studium gelernt, wie wichtig es sei, sorgfältig mit Daten umzugehen, sie nicht zu zentralisieren und nie den eigenen Algorithmen zu trauen. Bis diese Empfehlungen für alle Big-Data-Projekte gelten, könne er nur empfehlen, das eigene Mobiltelefon möglichst wenig mit persönlichen Daten zu füttern.

 

Hier ist eine Auswahl der interessantesten Beiträge:

John Fass: Designing Humanity

Der englische Designer John Fass arbeitet am Royal College of Art in London. Im Interface-Design erforscht er, wie computerbasierte Produkte mit der Lebenswelt des Menschen verknüpft werden. Fass zufolge prägt die digitale Technologie unsere Welt und unsere Identität. In seinem Vortrag plädiert er dafür, Computer und Systeme wieder zu öffnen, damit sie veränderbar sind. Warum sollte es nicht ein Handy geben aus kompostierbaren Material? Warum zeigt uns eine Applikation nicht an, wie viel Geld wir für ein Spiel schon ausgegeben haben? Wie können wir verhindern, dass Handys Informationen wie etwa unseren Standort nicht ohne unser Einverständnis speichern?

 

Mushon Zer-Aviv: If everything is a network, nothing is a network

Der Designer und Internetaktivist Mushon aus Tel Aviv beschäftigt sich mit der Struktur von Informationen. Anhand von Modellen und interaktiven Informationsgrafiken visualisiert er diese Strukturen, um die dahinter liegenden Systeme offen zu legen. In seinem Vortrag warnt er vor einer zentralisierten und hierarchischen Struktur des Internet. "Wenn wir die Komplexität der Systeme verstehen, können wir auch Wege aufzeigen, wie wir das Netz vor Einschränkungen oder Kontrolle schützen", meint Mushon.

 

Jeff Kowalski: Optimierung durch generatives Design

Der Chef-Entwickler für digitale Fertigung und generatives Design der us-amerikanischen Firma Autodesk stellte in seinem Vortrag die Zukunft vor. Werkzeuge können heute bessere Maschinen fertigen, Software durch Algorithmen eigenständig Dinge entwerfen – wie eine perfekte Drohne. Kowalski zeichnet in seinem Vortrag ein absolut technologiefreundliches Bild der Zukunft, in dem die Menschen nur als Mentoren fungieren für Computer, die wiederum eigenständig die Welt gestalten. Die Antwort auf seine These, dass die Technologie mit einem Wertesystem verknüpft werden muss, bleibt er schuldig.

 

Kate Crawford: Big-Data-Angst

Kate Crawford ist die leitende Wissenschaftlerin im Social Media Collective von Microsoft Research und Professorin am MIT Center of Civic Media. In ihrem Vortrag warnt Crawford vor den Gefahren der Digitalisierung. Das Internet reflektiere und tradiere bestehende Vorurteile und Systeme von Unterdrückung und Diskriminierung. Sie fordert mehr Transparenz algorithmischer Systeme und einen ethischen Umgang mit Daten. Wichtig seien weiterhin Sicherungssysteme zum Schutz der Menschen.

 

Luciano Floridi: Leben in der Infosphäre

Luciano Floridi ist Professor für Philosophie und Informationsethik in Oxford und beschäftigt sich intensiv mit der Frage nach dem Datenwachstum. Er gehörte dem Expertenbeirat an, der für Google ergründen sollte, welche Konsequenzen aus dem 2014 ergangenen EuGH-Urteil zum "Recht auf Vergessenwerden" gezogen werden müssen. In seinem Vortrag vertritt er die These, dass sich die Menschheit derzeit in einem digitalen Baby-Boom befindet und ähnlich achtlos mit Daten umgeht, wie sie früher mit natürlichen Ressourcen umgegangen ist. Floridi setzt sich für einen Schutz von Daten ein. Dieser müsse ebenso selbstverständlich werden wie ein öffentliches Rauchverbot.

 

Edward Snowden: Leben in der Infosphäre

Das Recht auf Privatleben bildet die Grundlage für alle anderen Rechte. Dieser Schutz müsse ein Leben lang gelten – unabhängig davon, welche Daten von einem Menschen im Netz existierten. Die Gesellschaft muss wieder politische Kontrolle über den Umgang mit Daten gewinnen und für Rechtssicherheit sorgen. Der Einfluss von Wirtschaftsunternehmen muss begrenzt werden.

 

Gunter Dueck: Cargo-Kulte

Gunter Duck ist Mathematiker und Betriebswirt. In seinem Vortrag erklärt er, was er unter Cargo-Kult versteht: Wenn scheinbar optimale Rahmenbedingungen geschaffen werden und trotzdem das Erhoffte Ziel nicht erreicht wird. In einem satirisch-unterhaltsamen Streifzug durch Politik, Wirtschaft und Kultur zeigt Dueck auf, wie die Menschen auf Erlösung warten und sich von Beratern die Händchen halten lassen.

 

Trebor Scholz: Platform cooperativism

Der Professor für Kultur und Medien an der New School in New York setzt sich dafür ein, alternative Plattformen zu schaffen – als Gegenpunkt zu den Wirtschaftsangeboten. Das Internet sollte statt dessen auf kommunaler Ebene finanziert und von Kooperativen oder demokratischen Systemen geführt werden.

 

Carolin Emcke: Das Raster des Hasses

Die Publizistin und Philosophin Carolin Emcke schreibt regelmäßig für die Süddeutsche Zeitung. In ihrem Vortrag beschäftigt sie sich mit dem Thema Hass - und räumt mit dem gängigen Klischee auf, dass es sich dabei um etwas Natürliches handelt. Der Vortrag war teil einer Reihe von Veranstaltungen auf der re:publica mit dem Hashtag #Hatespeech. 

 

Nachlese von kirchlicher Seite

Weitere Berichte von der re:publica aus dem kirchlichen Bereich von Christoph Breit (Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern) und Ralf Peter Reimann (Evangelische Kirche im Rheinland)

 

re:publica 2016 in Berlin: Halle
re:publica 2016 in Berlin: Halle
re:publica 2016 in Berlin: Lichtspiel
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re:publica 2016 in Berlin: Menschenmenge
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