Eigentlich lese ich die Antworten in der Sprechstunde gerne, aber neulich ist mir was richtig aufgestoßen wie sauer Bier. Da schreibt eine Frau, dass sie nur vor dem Fernseher sitzt und isst. Und Sie verstehen das auch noch. Diese Frau hat offenbar keinen Mann, kein Kind, niemanden, um den sie sich kümmern muss, sie scheint auch keinen Glauben zu haben. Nein, sie sitzt nur zu Hause und erwartet unser Mitleid.

Sie könnte doch überall helfen! Sie bräuchte nur in ihre Gemeinde zu gehen. Überall werden helfende Hände gebraucht. Das muss man so jemandem doch einfach mal sagen! Die Dame braucht einfach etwas, das wieder Schwung in ihr Leben bringt!

Herr K. (80)

Wie kommt wieder Schwung ins Leben, wenn jemand sich sehr langsam und müde fühlt, klagt und vielleicht für sich keinen anderen Weg sieht, als vor dem Fernseher zu sitzen und zu essen? Ich finde, das ist eine sehr berechtigte Frage - und ich kann auch die Ungeduld verstehen, die einen packt, wenn man so jemanden sieht.

Ihnen ist viel eingefallen, was Sie dieser Frau einfach mal sagen würden, wenn Sie ihr gegenüberstehen. Mir fällt was anderes ein. Ich bin so eine, die sich zunächst mal ein bisschen neben diese Frau stellen oder setzen würde - oder auch neben andere, die sich auch gerade schwer tun, sich aufzuraffen und was anzupacken.

Dann würde ich versuchen, etwas zu spüren von der Müdigkeit und Schwere. Das fällt mir nicht so schwer, denn ich kenne das natürlich auch von mir. Und dann überlege ich mir, was uns beiden, die wir da so nebeneinander sitzen, jetzt gut tun würde. Und manchmal fallen mir dann ein paar Zeilen aus einem Gedicht von Jutta Richter ein. "Der Engel der Langsamkeit" hat sie es überschrieben. Darin heißt es:

"Ein Engel hat immer für dich Zeit, / das ist der Engel der Langsamkeit. / Der Hüter der Hühner, Beschützer der Schnecken, / hilft beim Verstehen und beim Entdecken, / schenkt die Geduld, die Achtsamkeit, / das Wartenkönnen, das Lang und das Breit.

Und wenn die Leute über dich lachen, / und sagen, du musst doch schneller machen, / dann lächelt der Engel der Langsamkeit / und flüstert leise: Lass dir Zeit! (...)

Und sind wir müde und atemlos, / nimmt er unseren Kopf in seinen Schoß. / Er wiegt uns, er redet von Muscheln und Sand, / von Meeren, von Möwen und von Land."

(aus: Jutta Richter, An einem großen stillen See, Hanser Verlag München)

Mir hilft dieser Engel, erstmal einfach Ja zu sagen dazu, wie es gerade ist, mir die Ruhe zu erlauben, die ich in meiner Erschöpfung und Schwere brauche und dann allmählich zu verstehen, warum es gerade so ist (das ist manchmal nicht so leicht, weil man dabei auch auf traurige Gedanken und Gefühle stößt) und zu entdecken, wie es weitergehen könnte. Gott weiß, wie nötig wir manchmal gerade solche Engel brauchen, um irgendwann mal wieder ein bisschen Schwung in unserem Leben zu spüren.