Vor 50 Jahren fanden die Olympischen Spiele in München statt. Die Begeisterung in der Stadt war riesig. Man wollte sich nach der NS-Zeit als weltoffener Gastgeber zeigen und "heitere Spiele" zelebrieren.  

Einen Tag nach seinem letzten Gold-Triumph dann die Tragödie: Palästinensische Terroristen nahmen elf Mitglieder des israelischen Teams als Geiseln, am Ende starben alle Geiseln und ein Polizist. Die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, Charlotte Knobloch (89), erinnert sich im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst an die Münchner Spiele und erklärt, warum sie nicht von einem Jubiläumsjahr sprechen mag und warum sich München mit seinem Gedenken manchmal schwertut.

Frau Knobloch, die Olympischen Spiele 1972 in München waren als "heitere Spiele" angelegt. Hat es Sie gefreut, dass ausgerechnet Ihre Heimatstadt nach der NS-Zeit die Chance bekam, eine freundliche Seite von Deutschland zu präsentieren?

Charlotte Knobloch: Ich habe mich sehr, sehr gefreut. Denn die letzten Olympischen Spiele in Deutschland 1936 waren ja einzig darauf ausgerichtet, das NS-Regime vor der Welt in einem guten Licht dastehen zu lassen. Und dann bekam München die Möglichkeit, die Tore zur Weltgemeinschaft wieder aufzustoßen. München hat sich von seiner besten Seite gezeigt. Für mich persönlich kam noch hinzu, dass ich schon immer sportlich interessiert war; und außerdem: Wann bekommt man schon mal die Chance, Olympische Spiele live mitzuerleben?

Welche Sportarten haben Sie denn interessiert?

Knobloch: Na ja, damals vor allem das Schwimmen, der Mark Spitz war schon toll .(lacht) Damals war ich ja auch noch in einem Alter, wo man sich für so jemanden begeistern kann. Ich habe mich jedenfalls sehr bemüht, Karten für die Schwimmwettbewerbe zu bekommen und noch für zwei oder drei andere Wettkämpfe.

"U-Bahn und S-Bahn wurden gebaut, der Olympiapark, das Olympische Dorf, das heute fast ein eigenes Stadtviertel ist, das wunderschöne Olympiastadion."

Sie klingen ehrlich begeistert...

Knobloch: Ja natürlich! Das war ein Highlight für mich und alle Menschen in München. Meine Tochter wurde gefragt, ob sie sich als Hostess um Gäste und Touristen kümmern wollte, und hat natürlich begeistert zugesagt. Sie hat viele Menschen aus dem Ausland kennengelernt. Das gab es vorher so nicht. Deutschland war ja nach der NS-Zeit international immer noch ziemlich isoliert. Mit den Olympischen Spielen ist Deutschland rausgekommen aus dieser Isolation. Und Olympia hat ja auch was mit München gemacht: U-Bahn und S-Bahn wurden gebaut, der Olympiapark, das Olympische Dorf, das heute fast ein eigenes Stadtviertel ist, das wunderschöne Olympiastadion. Es gab viele sichtbare und unsichtbare Errungenschaften.

Terroranschlag bei den Olympischen Spielen 1972 in München

Am frühen Morgen des 5. September 1972 nahmen Mitglieder der palästinensischen Terrororganisation "Schwarzer September" elf israelische Athleten im Olympischen Dorf in München als Geiseln. Damit wollten sie unter anderem die Freilassung von über 200 Palästinensern aus israelischen Gefängnissen erzwingen sowie die der deutschen Terroristen Andreas Baader und Ulrike Meinhof. Außerdem forderten sie ein Flugzeug für ihre Flucht in ein arabisches Land.

Die deutschen Sicherheitsbehörden waren auf einen Terrorakt nicht vorbereitet. München sollte nach den Olympischen Spielen 1936 in Berlin, die die Nationalsozialisten für ihre Propaganda nutzten, als Ort der "heiteren Spiele" in die Sportgeschichte eingehen. Die Sicherheitsvorkehrungen waren bewusst locker gehalten; Polizisten im Olympia-Park waren unbewaffnet und trugen hellblaue Trainingsanzüge statt Uniformen.

Dementsprechend unvorbereitet traf München die Geiselnahme: Erst am Nachmittag wurden die Spiele unterbrochen. Außerdem waren die Terroristen via Fernsehen immer über das Vorgehen der Polizei informiert - man hatte schlicht vergessen, ihnen den Strom abzustellen und der Presse allzu bereitwillig Auskunft gegeben über die nächsten Schritte.

Am Abend brachte der Bundesgrenzschutz die Palästinenser und die Geiseln schließlich zum Militärflugplatz im nahen Fürstenfeldbruck, wo das geforderte Flugzeug bereitgestellt wurde. Dort wollte die Polizei zugreifen, doch die Befreiungsaktion endete in einer Katastrophe. Alle elf Geiseln sowie ein Polizist und fünf Terroristen kamen ums Leben.

Die Spiele blieben zunächst für einen halben Tag unterbrochen. IOC-Präsident Avery Brundage ließ sie mit den umstrittenen Worten "The games must go on" schließlich fortsetzen.

Die "heiteren" Spiele fanden dann am 5. September ein jähes Ende, als palästinensische Terroristen elf israelische Sportler als Geiseln nahmen. Was ist Ihnen durch den Kopf gegangen, als Sie von dem Angriff gehört haben?

Knobloch: Für mich war das eine Tragödie. Deutschland und München waren auf so etwas leider gar nicht vorbereitet. Obwohl es kurz vorher schon Terroranschläge gegeben hat, zum Beispiel 1970 auf unser jüdisches Gemeindezentrum in München mit sieben Toten oder den Anschlag auf ein israelisches Flugzeug in München-Riem durch palästinensische Terroristen. Die Zeiten waren nicht so ruhig damals. Da hätten sich die Sicherheitsbehörden schon mehr Gedanken machen müssen.

"Ein großer Fehler war 1972, die Hilfe von israelischen Experten abzulehnen. "

Die Opfer waren in erster Linie jüdische Menschen. Ausgerechnet in Deutschland.

Knobloch: Ja, ausgerechnet... Zu der Zeit herrschte auch noch Schweigen zwischen Opfern und Tätern der NS-Zeit. Das hat sich erst ab den späten 1970er und 1980er Jahren geändert, als Serien wie "Holocaust" und Filme wie "Shoah" veröffentlicht wurden. Da hat sich was bewegt auf beiden Seiten. 1972 war man noch nicht so weit. Aber ein Dialog auf Zwang hätte nichts gebracht, das musste sich entwickeln.

Ein großer Fehler war 1972 auch, die Hilfe von israelischen Experten abzulehnen. Die Israelis hätten doch die Pläne der Palästinenser am besten verstanden. Wie man so ein Angebot von Israel ablehnen kann, wenn es um Menschenleben geht - das ist mir unbegreiflich.

Fanden Sie eigentlich die Entscheidung richtig, die Olympischen Spiele nach einer kurzen Unterbrechung weiterlaufen zu lassen?

Knobloch: Ich fand die Entscheidung damals nicht richtig. Ich war betroffen, habe mit den Opfern und den Angehörigen mitgefühlt. Heute sehe ich das etwas anders: Ich glaube, dass es vertretbar war im Hinblick auf die Sportler, die sich jahrelang auf die Olympischen Spiele vorbereitet haben. Dass die noch ihre sportlichen Fähigkeiten zeigen wollten, verstehe ich. "Heiter" war dann allerdings nichts mehr. Die letzten Tage waren sehr betrüblich.

"Das Attentat war Teil der Olympischen Spiele, es gehört zur Münchner Olympia-Geschichte."

Kann man denn angesichts solch einer Tragödie überhaupt noch von einem Jubiläumsjahr, das sich so nach Feiern anhört, sprechen?

Knobloch: Ich spreche von einem Gedenkjahr - anlässlich der Olympischen Spiele vor 50 Jahren und anlässlich des Attentats. Und übrigens: Beide Komplexe gehören zusammen. Das Attentat war Teil der Olympischen Spiele, gehört also zur Münchner Olympia-Geschichte. Man kann die Themen also nicht getrennt voneinander betrachten, wie es derzeit von manchen Seiten gefordert wird.

Sie haben den Anschlag auf das jüdische Gemeindezentrum 1970 angesprochen, der bis heute nicht im öffentlichen Bewusstsein verankert ist. Für die Opfer des Olympia-Attentats wurde erst vor fünf Jahren ein Gedenkort eingeweiht, also erst 45 Jahre später. Hat München ein Problem mit seiner Erinnerungskultur?

Knobloch: München hat sich spät bewegt. Die Stadt bemüht sich aber heute sehr, dieses eventuelle Fehlverhalten auszugleichen. Als man gemerkt hat, dass ein Gedenken in größerer Form nötig ist, hat man einen Gedenkort errichtet. Ich glaube, dass die Hinterbliebenen der Opfer zum 50. Jahrestag mit dem Gedenken zufrieden sein werden. Alle bemühen sich außerordentlich.

Sie hören sich sehr verständnisvoll an, von Empörung keine Spur...

Knobloch: Mir ist am wichtigsten, was heute in der Sache geleistet wird. Schauen Sie: In Fürstenfeldbruck, wo ja damals die Befreiungsaktion gescheitert ist, findet jedes Jahr eine Gedenkveranstaltung statt. Die war dem Landrat (Anm. d. R. Thomas Karmasin ist seit 1996 im Amt) von Anfang an wichtig. Da muss ich sagen: Chapeau. Ich bin dazu jedes Jahr eingeladen und war bisher auch immer dabei. Dieses Gedenken ist doch ein gutes Zeichen.

"Wenn ich eine Einladung ausspreche, dann bin ich auch dafür verantwortlich, dass die Menschen wieder lebend nach Hause kommen."

Als Entschuldigung wird hin und wieder vorgebracht, dass der Terrorismus von außen gekommen und von daher das Olympia-Attentat eigentlich gar keine Münchner Angelegenheit sei. Was halten Sie von so einer Argumentation?

Knobloch: Das ist doch absolut lächerlich. München hat Sportler und Menschen aus aller Welt zu sich eingeladen. Wenn ich eine Einladung ausspreche, dann bin ich auch dafür verantwortlich, dass die Menschen wieder lebend nach Hause kommen.

Haben München und Deutschland aus dem Attentat wenigstens etwas gelernt?

Knobloch: Man hat seine Lehren gezogen. Vor den Olympischen Spielen wurden jüdische Gemeinden und Einrichtungen zum Beispiel vom Staat nicht geschützt. Für den Schutz ist die jüdische Bevölkerung selbst aufgekommen. Da gab es dann ein Umdenken. Und Deutschland hat sich von da ab natürlich besser gegen Terrorismus gewappnet.