Was ist denn ein Trauma genau?

Lucija Lukić Holjan: Traumatische Erfahrungen sind Erfahrungen, die immer mit einer objektiven Bedrohung einhergehen und mit einem subjektiven Empfinden dieser extremen Bedrohung verbunden sind. Es hängt also immer davon ab, wie ich das was ich erlebe, selber bewerte. Von daher ist es immer schwierig zu sagen: "Jetzt stell dich nicht so an, das war doch gar nicht so schlimm.” Für mich selbst mag es vielleicht gar nicht so schlimm gewesen sein, aber für jemand anderes schon. Wichtig ist auch zu sagen, dass wir in traumatischen Situationen weder fliehen können, noch gegen die Gefahr ankämpfen können und wir uns in der sogenannten "traumatischen Zange" befinden. Das heißt wir sind handlungsunfähig und erleben Gefühle von Ohnmacht, Hilflosigkeit, vom Ausgeliefertsein und einem totalen Kontrollverlust.

"Je besser Menschen in ihr Umfeld eingebunden sind, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass es bei den akuten Belastungsreaktionen bleibt."

Und wie werden aus den traumatischen Erfahrungen posttraumatische Belastungsstörungen?

Das hängt immer tatsächlich davon ab, welche Vorbelastung Menschen mitbringen, von der Intensität und der Dauer der traumatischen Erfahrung selbst und dann letztendlich auch von dem, was eben nach dieser traumatischen Erfahrung folgt. Je besser Menschen in ihr Umfeld eingebunden sind, je besser sie sich verstanden und aufgehoben fühlen, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass es bei den akuten Belastungsreaktionen bleibt, die normal sind. Jeder Mensch entwickelt ja letztendlich nach einem belastenden Erlebnis akute Belastungsreaktionen, die bis zu vier Wochen andauern können. Und das ist durchaus sehr normal. Aber wenn es länger andauert und das Leben der Menschen länger beeinträchtigt ist, über den Zeitraum von drei Monaten hinaus, dann sprechen wir von einer posttraumatischen Belastungsstörung.

Kommen wir zu dem Projekt "Ressourcentage". Da kommen Frauen aus ganz verschiedenen Ländern. Ist das bewusst so international ausgelegt?

Es sollte für uns auf keinen Fall in irgendeiner Form ein Ausschlusskriterium sein, woher die Frauen kommen, denn unabhängig davon, wo die Frauen herkommen, haben sie in der Regel schon Belastendes in ihrem Heimatland erlebt, also innerfamiliäre Gewalt oder Gewalt im gesellschaftlichen Kontext. Von daher geht es uns nicht darum, Frauen aus einem Land hier als eine Gruppe einzuladen, sondern um Frauen aus unterschiedlichen Herkunftsländern, für die eben die Gemeinsamkeit ist, dass sie flüchten mussten, einzuladen. 

"Deutschkenntnisse sind sowohl bei den Frauen als auch bei den Kindern wichtig."

Und in welcher Sprache wird das kommuniziert?

Auf Deutsch. Das ist auch die Grundvoraussetzung. Deutschkenntnisse sind sowohl bei den Frauen als auch bei den Kindern wichtig, weil alles auf Deutsch gemacht wird.

Gibt es noch weitere Teilnahmekriterien?

Es gibt ausschließlich zwei Teilnahmevoraussetzungen. Zum einen die Deutschkenntnisse und zum anderen das Alter der Kinder. Dies sollte idealerweise in der Altersspanne zwischen sechs und elf Jahren liegen. Es ist uns wichtig, dass die Kinder und Frauen auch getrennt an unterschiedlichen altersspezifischen Inhalten teilnehmen können, eben damit auch die Frauen Schutzräume haben, um über ihre Themen zu sprechen und sich auch wirklich auf sich fokussieren können. Die Altersvoraussetzung der Kinder hat folgenden Hintergrund: Unter sechs Jahren ist es in der Regel schwierig, sich von der Mutter zu trennen und selbstständig an unterschiedlichen Workshops teilzunehmen. Von daher haben wir das so eingegrenzt.

Zur Person

Lucija Lukić Holjan ist Diplom Psychologin mit Zusatzausbildung im Bereich Psychotraumatologie. Sie arbeitet seit 2004 für die Stiftung Wings of Hope. Zunächst in Bosnien und Herzegowina und ab 2017  für die Stiftung Wings of Hope Deutschland wo sie im Projektmanagement Inland tätig ist.

Ist es relevant, wie lang das Trauma schon besteht?

Nein. Wir machen das ja jetzt im November bereits zum vierten Mal und das Trauma der meisten Frauen ist zwischen drei und fünf Jahren her. Wobei es dieses Jahr auch eine Ausnahme gibt, da werden wir zwei Frauen aus der Ukraine haben, die im März nach Deutschland geflüchtet sind, aber so weit schon gut Deutsch sprechen können, dass die Teilnahme am Projekt möglich ist. Aber nein, das ist nicht relevant, denn wir wissen ja aus der Trauma Forschung, dass auch traumatische Erfahrungen, die Jahrzehnte zurückliegen, trotzdem negative Auswirkungen auf den Menschen im Hier und Jetzt haben können.

"Der Fokus liegt auf der Hilfe zur Selbsthilfe."

Wir haben auf Ihrer Webseite gelesen, dass Sie Übungen zum "seelischen Auftanken und zur Stress Regulation” anbieten. Was sind das für Übungen?

Unsere Workshops sind auf unterschiedlichen Inhalten aufgebaut. Zum einen geht es um die Informationsvermittlung zu dem Thema Trauma. Was ist Trauma? Wie entstehen traumatische Erfahrungen? Was hat die Art und Weise, wie es mir im Alltag geht damit zu tun? Zum anderen bekommen die Frauen folgende Information vermittelt: "Es ist normal, wie es euch geht. Das was ihr erlebt hat, war unnormal.” Es geht vor allem darum die Frauen für das Thema Trauma zu sensibilisieren. Sie beschäftigen sich unter anderem mit folgenden Fragen: "Welche Beschwerden habe ich im Alltag? Was hat das mit meinen Erfahrungen zu tun?” Der Fokus liegt auf der Hilfe zur Selbsthilfe.

Was heißt das konkret?

Das heißt: wie kann ich mir im Alltag helfen, mit meinen Beschwerden umzugehen. Wir machen unter anderem auch Atemübungen und auch Imaginationsübungen. In der Regel gibt es auch einen Tanz Workshop mit einer Tanz Therapeutin. Körperarbeit ist sehr wichtig in der Traumaarbeit, weil die Angst auch in jeder Körperzelle abgespeichert ist, nicht nur im Kopf. Im Rahmen der Stabilisierungsarbeit erstellen die Frauen auch die sogenannte "Notfall Liste". Auf dieser Notfall Liste wird alles aufgeschrieben, was die Frauen in Notsituationen machen können, um ihre Beschwerden, die durch unterschiedliche Schlüsselreize in der Außenwelt ausgelöst werden können, zu reduzieren. Es handelt sich dabei um unterschiedliche Techniken und Methoden, die die Frauen dabei unterstützen, ein bisschen mehr Stabilität in ihren Alltag reinzubringen, indem sie sich in Situationen, in denen sie immer wieder von Stress überflutet werden, selber helfen können.

"Wir möchten den Kindern und Frauen Momente ermöglichen, in denen sie Spaß haben und miteinander lachen können."

Wie sieht das Angebot bei den Kindern aus?

Für die Kinder gibt es ein vielseitiges Angebot mit sehr viel Bewegungsmöglichkeiten, die Kinder verbringen sehr viel Zeit bei unterschiedlichen erlebnispädagogischen Angeboten. Sie bekommen auch Informationen über Stressverarbeitung vermittelt. Wir führen den sogenannten Stress Barometer ein, das heißt, wir versuchen auch den kleinsten Kindern beizubringen, wie sie ihren Gefühlszustand einschätzen können und dass es nicht schlimm ist, wenn man wütend oder traurig ist, sondern dass es darauf ankommt, wie man damit umgeht.

Was ist der Vorteil bei den gemeinsamen Programmen für Frauen und Kinder?

Es ist wichtig, die Bindung zwischen den Müttern und Kindern zu fördern und ihnen auch zu ermöglichen, gemeinsam positive Erfahrungen zu sammeln. Bei den bevorstehenden Stabilisierungstagen werden wir mit zwei Clowns von "Clowns ohne Grenzen" zusammenarbeiten und veranstalten eine Clownsshow für die Kinder und Frauen, weil Humor eine wichtige Ressource ist und wir möchten den Kindern und Frauen Momente ermöglichen, in denen sie Spaß haben und miteinander lachen können.

Wie wird mit den bestimmten traumatischen Erlebnissen der einzelnen Teilnehmer*innen umgegangen?

Wir passen uns den Bedürfnissen der einzelnen Frauen und Kinder an. In der Traumaarbeit ist es sehr wichtig, dass die Betroffenen selber aktiv in den Stabilisierungsprozess eibezogen sind und mitentscheiden können Die traumatische Erfahrung geht immer mit einem Gefühl des Kontrollverlustes einher. Es verbietet sich daher in der Traumatherapie alles, was diesen Kontrollverlust hervorrufen kann. Die Frauen und die Kinder werden auch immer ermutigt, Sachen zu benennen, die sie nicht möchten.

Sie gehen also sehr behutsam vor?

Es geht um einen feinfühligen und traumasensiblen Umgang, das heißt einen Umgang der sich an den Bedürfnissen der Frauen und Kinder orientiert. Wichtig ist dann auch, dass sie verstehen, warum geht es mir im Alltag so? Warum habe ich diese Beschwerden? Wo kommt das her? Das ist für mich schwer, ist es auszuhalten. Frauen, die hierherkommen, haben größtenteils noch nie diese gezielte Unterstützung erfahren. Und deshalb ist es wichtig erst mal Stabilisierungsprogramme zu machen. So bekommen die Frauen ganz viel Werkzeug mit an die Hand, wie sie sich selber helfen können, beziehungsweise wie sie ihre Beschwerden im Alltag besser in den Griff bekommen können.

Frau mit Bogen vor Berglandschaft
Bei einer gemeinsamen Aktionen üben sich die Frauen und Kinder im Bogenschießen.
Von den Kindern Gebasteltes in einem Kreis angeordnet
Die von den Kindern gestalteten Ressourcen-Kisten sind ein wichtiger Bestandteil der Woche. In ihnen sammeln die Kinder ihre positiven Erfahrungen.
Kind, das Zunge herabfallenden Schneeflocken entgegenstreckt
Auf dem Labenbachhof soll die Bindung zwischen Müttern und Kindern gestärkt werden. Vor allem der Spaß der Kinder steht im Vordergrund.

"Neue Hoffnung und die Perspektive, dass das Leben auch schön sein kann."

Inwieweit kann das Trauma der Geflüchteten geheilt werden?

Trauma heilen kann man in sechs Tagen tatsächlich nicht. Traumaheilung ist ein langwieriger und langanhaltender Prozess. Aber wir können Anstöße geben, das ist uns sehr wichtig. Wir können den Frauen und Kindern ermöglichen, sich glücklich zu fühlen, sich einer Gemeinschaft angehörig zu fühlen, in dieser angenommen zu werden und ein bisschen Heilung zu erfahren. Die Frauen und Kinder gestalten im Rahmen der Stabilisierungstage auch sogenannte Schatzkiste oder Ressourcen-Kisten, in die sie jeden Tag Symbole für neue positive Erfahrungen reinlegen. Die Frauen fahren in der Regel mit einer vollgepackten Ressourcen Kiste nach Hause, aus der sie, wie sie dann im Nachhinein berichten, auch lange Kraft und Energie schöpfen können und die ihnen letztendlich auch neue Hoffnung gibt.

Neue Hoffnung und die Perspektive, dass das Leben auch schön sein kann. Viele von ihnen haben ja Begleiter oder Unterstützer in ihrem Heimatort, die ihnen bei der Bewältigung der Alltagsaufgaben helfen. Und falls erforderlich, überlegen auch wir gemeinsam mit den Frauen und den Unterstützern im Nachhinein, welche zusätzlichen Unterstützungsmöglichkeiten würde es in der lokalen Umgebung oder in ihrem Alltag noch geben.

Werden die Frauen danach weiter betreut oder an Psycholog*innen weitergeleitet?

Die Frauen brauchen ja nicht unbedingt alle einen Psychologen oder therapeutische Unterstützung. Wir veranstalten ungefähr ein, eineinhalb Monate nachdem die Maßnahme beendet wurde ein Nachtreffen mit den Frauen und Kindern. Und bei diesem Treffen mit den Frauen und Kindern werden die Erfahrungen noch mal ausgetauscht. Dabei geht es vor allem um die Frage ob und wie diese sechs Tage im Alltag nachwirken. Was die Frauen berichten ist, dass es eine überwältigende Erfahrung gewesen sei und sie immer noch Kraft und Energie daraus schöpfen würden. Einigen hat es neue Perspektiven geöffnet. Beispielsweise eine Frau, die gesagt hat, ich möchte jetzt eine Ausbildung machen und ich möchte was für mich tun.

Die Idee ist jetzt aber auch tatsächlich in der Zukunft das Projekt mehr nachhaltig aufzubauen. Im Sinne von einer Stabilisierungsgruppe, die wir anbieten möchten. Das heißt, alle Frauen, die in der Vergangenheit an diesem Angebot teilgenommen hatten, werden die Möglichkeit bekommen an einer Stabilisierungsgruppe einmal monatlich teilzunehmen, in der die Ressourcen- und Stabilisierungs-Arbeit weitergeführt wird.

"Die geflüchteten Kinder hatten die Möglichkeit, mit Kindern aus den naheliegenden Gemeinden mitzumachen, um auch die Integration zu fördern."

Sind auch spezielle Angebote für ukrainische Geflüchtete in Deutschland geplant?

Nicht nur geplant, sondern bereits umgesetzt. Meine Kollegin hat zwei große Online Vortrags-Seminare mit dem Titel "Geflüchtete unterstützen dabei selber stabil bleiben” kostenfrei für ehrenamtliche Helfer in der Flüchtlingsarbeit angeboten. Mit einer wirklich sehr großen Resonanz. Das haben wir unmittelbar nach dem Beginn des Ukrainekriegs angeboten. Und weil das Interesse so groß war, anderthalb Monate später noch mal. Dazu haben wir hier auf dem Labenbachhof auch speziell ein Projekt für Frauen und Kinder, die aus Ukraine geflüchtet sind und ihren aktuellen Wohnsitz im Landkreis Traunstein haben, umgesetzt.

Als Stiftung sind Sie besonders auf Spenden angewiesen. Woher beziehen Sie Ihre Fördermittel und was genau wird damit alles finanziert? 

Die letzten drei Stabilisierungstage wurden unter anderem von den Fördermitteln der Deutschen Postcode Lotterie finanziert sowie dem Förderverein der Stiftung und den Spenden unserer treuen Spender. Die bevorstehenden Stabilisierungstage werden teils von der Stiftung Chancen für Kinder aus Hamburg mitfinanziert. Und der Rest des Geldes sind dann die Spenden von unseren treuen Spendern. Wir sind sehr aktiv im Fundraising, speziell auch in Bezug auf dieses Projekt und hoffen natürlich auch auf eine langfristige Förderung durch Drittmittel. Alle Einnahmen die wir als Veranstalter unterschiedlicher Seminare/Weiter-und Fortbildungen rund um das Thema Trauma erzielen fließen in die Kasse von Wings of Hope ein und werden für die Förderung unterschiedlicher Projekte genutzt.

Welche Projekte sind für die Zukunft geplant?

Die bestehenden Projekte werden auf jeden Fall fortgeführt. Unser Anliegen ist es, Menschen, zu unterstützen. Wir haben unterschiedliche Schwerpunkte und unterschiedliche Säulen. Wir bauen auch auf Training auf. Das heißt, es ist uns wichtig, Menschen in anderen Ländern zu befähigen, Gewaltopfern angemessen helfen zu können und Sie durch Weiterbildungsangebote in diesem Bereich der Traumaberatung oder Traumatherapie zu stärken. Und das werden wir weitermachen in allen Ländern, in dem wir bis jetzt auch tätig sind, weil es eben unser Hauptanliegen ist. Darüber hinaus werden wir weiterhin im Bereich der Netzwerke arbeiten. In Kurdistan-Irak, Deutschland, Bosnien und Herzegowina, Israel, Palästina gibt es jeweils ein Jugend-Netzwerk. Auch die Aktivitäten in Deutschland setzen wir fort. 

Die Stiftung Wings of Hope

Wer ist und was macht die Stiftung Wings of Hope? Trauma heilen, Frieden stiften, Versöhnung leben - dieser Dreiklang beschreibt die Vision der Stiftung Wings of Hope. Wings of Hope Deutschland ist eine Stiftung der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern. Unser Schwerpunkt ist die psychosoziale Hilfe für Kinder, Jugendliche und Erwachsene. Dies geschieht durch das Angebot von qualifizierter Weiterbildung in Traumapädagogik/Beratung/Therapie in Deutschland und unseren Projektländern, durch die Förderung lokaler Jugendprojekte und durch einfühlsame Beratung und Therapie von Betroffenen. Die Labenbachhof gGmbH ist eine Tochtergesellschaft der Stiftung. Der Hof ist der Ort, wo wir unsere ressourcenorientierten Maßnahmen, Projekte und Weiterbildungen in Oberbayern durchführen. Weitere Informationen über die Arbeit der Stiftung Wings of Hope finden Sie unter: www.wings-of-hope.de

Spendenhinweis

Stiftung Wings of Hope

Evangelische Bank eG

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BIC: GENODEF1EK1

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