Der 18. Geburtstag meiner Schwester fiel auf einen Karfreitag. Für unsere Eltern – beide damals Pfarrer*innen einer evangelischen Stadtgemeinde bei Hannover – ein echtes Dilemma: Darf man am höchsten Trauertag des Christentums feiern? Das Pfarrhaus grenzte direkt an die Kirche, der Garten lag wie auf einem Präsentierteller vor den Augen der Gemeinde. Was dort geschah, war für alle sichtbar.
In dieser Situation erlebte ich mit 15 Jahren, was der Karfreitag eigentlich bedeutet – nicht durch Verbote, sondern durch bewusste Auseinandersetzung. Genau diese Erfahrung fehlt in der jährlich wiederkehrenden gesellschaftlichen Debatte um das Tanzverbot.
Ich beobachtete damals, wie der Karfreitag unser Wohnzimmer spaltete. Meine Eltern diskutierten offen vor und mit uns: theologisch fundiert und zugleich nah an unserer Lebenswirklichkeit.
Zwischen Pflicht und Freiheit: Ein Feiertag im Spannungsfeld
Die Gerechtigkeit sprach für eine große Feier im Garten, wie sie auch unsere älteste Schwester drei Jahre zuvor erlebt hatte. Die Rücksichtnahme auf Nachbarn und Gemeinde, die Vorbildfunktion als geistliche Amtsträger und nicht zuletzt die drohenden Bußgelder sprachen dagegen.
Der Kompromiss überraschte mich: Die Geburtstagsfeier fand tatsächlich statt – zunächst im Garten, doch kurz vor Mitternacht wurde die Party nach innen verlagert, aus Rücksicht auf die Nachbarn und, ja, auch aus Sorge vor möglichen Konsequenzen.
Ein Verstoß gegen das Tanzverbot? Irgendwie schon. Ein Verrat am Karfreitag? Nicht unbedingt. Ich lernte an diesem Tag mehr über die Bedeutung des Karfreitags als in jedem Gottesdienst zuvor – nicht trotz, sondern wegen der bewussten Auseinandersetzung mit der Ausnahme.
Was die Tanzverbots-Debatte übersieht
Jedes Jahr ungefähr zu selben Zeit flammt die Diskussion um das Tanzverbot zum Karfreitag neu auf. Die Befürworter*innen sehen darin den notwendigen Schutz dieses Feiertags. Sie argumentieren, dass unsere Gesellschaft diese Momente der kollektiven Stille brauche – eine Unterbrechung der Alltagshektik, die dem Nachdenken Raum gibt.
Die Gegenseite empfindet das Verbot als anachronistischen Eingriff in die persönliche Freiheit. "Aus der Zeit gefallen" ist der häufigste Vorwurf.
Doch vielleicht trifft das eher auf uns selbst zu – auf eine Gesellschaft, die nicht mehr weiß, wohin mit Leid und Abschied. Tatsächlich scheint nicht der Feiertag aus der Zeit gefallen, sondern unser Umgang mit Tod und Verlust, die existenziellen Fragen unseres Lebens.
Doch das Tanzverbot hilft uns dabei nicht weiter. Die föderale Regelung dieses Verbots offenbart eher die Absurdität der aktuellen Praxis: In Bayern gilt es für 70 Stunden, in Berlin nur für 17. Als ließe sich das Bedürfnis nach Stille und Einkehr nach Bundesländern und Stundenkontingent bemessen.
Die eigentliche Herausforderung: Räume für das Unbequeme schaffen
Die zentrale Frage lautet daher nicht: Darf man an Karfreitag tanzen? Sondern: Welche Räume brauchen wir in unserer Gesellschaft, damit Stille nicht als bedrückende Leere erlebt wird, sondern als Einladung zur Einkehr? Ein Raum, in dem auch Schmerz und Verlust einen Platz haben dürfen.
Die Corona-Pandemie hat uns hier eine wichtige Lektion erteilt: Vorschriften sind wichtig, um gesellschaftliche Rücksichtnahme zu organisieren. Aber sie haben ihre Grenzen. Wo Rücksicht zur Pflicht wird, verliert sie ihre tiefere Bedeutung und ruft mehr Ablehnung hervor, als Verständnis.
Ein Karfreitag ohne Tanzverbot wäre kein Verlust für das Christentum. Er könnte vielmehr eine Einladung sein: an die Kirchen, überzeugende Räume für die unbequemen Dimensionen des Lebens zu schaffen. Und an die Gesellschaft, Stille nicht als Zumutung zu empfinden, sondern als Möglichkeit zur Besinnung.
Zwischen Vorbild und Verteidigung: Die Rolle der Kirchen
Und Hand aufs Herz: Wen stört es wirklich in seiner eigenen Karfreitagserfahrung, wenn andernorts getanzt wird? Nutzen die Kirchen die ihnen staatlich zugesicherte Ruhe tatsächlich für tiefere spirituelle Angebote – oder verteidigen sie fast schon reflexhaft ihr traditionelles Privileg?
Im Pfarrhaus wurde der bewusste Umgang mit der Ausnahme für mich zur wertvollen Lernerfahrung. Erst durch das Abwägen verschiedener Perspektiven gewann der Karfreitag für mich an Bedeutung. Die Party blieb übrigens folgenlos: Keine empörten Reaktionen, keine Austritte. Die Gemeinde überlebte. Der Karfreitag auch.
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Soviel Text zu einer…
Soviel Text zu einer einfachen Sache. Der Karfreitag ist ein ruhiger Feiertag. Warum den Geburtstag nicht paar Tage später feiern? Zb. Ostersonntag? Geht es bei Feiertagen nur um freie Zeit oder sollte man sich wieder mehr auf die Inhalte besinnen? Das wäre doch die richtige Botschaft der Eltern gewesen.
In vielen Ländern ist der…
In vielen Ländern ist der Karfreitag kein Feiertag .
Wie gedenken die Menschen dort den Todestag Jesu?
Dieser Tag könnte einfach mit in den Ostersonntag integriert werden.
Jesus starb grausam am Kreuz aber wir wissen er ist auferstanden.
Verordnete Trauer an einem Tag ist das wichtig?