Erinnerungskultur in Hanoi: Stolz und Stille nach dem Krieg

Das Militärmuseum in Hanoi gehört zu den meistbesuchten Touristenattraktionen Vietnams. Hier zeigt sich der Stolz des narbenvollen Sieges über die technisch weit überlegenen US-Truppen, die über zwei Jahrzehnte von 1955 bis 1975 versuchten, den kommunistischen Vormarsch in dem geteilten Land einzudämmen.

Auf dem Gelände lassen sich auch viele Amerikaner mit den Resten der abgeschossenen Jets der U.S. Air Force fotografieren. Doch heute kommen die Amerikaner nicht als imperialistische Besatzer, sondern als friedliche Touristen, freundschaftlich, interessiert, demütig.

Erbeutetes amerikanische Kriegsgerät im militärgeschichtlichen Museum in Hanoi.
Erbeutetes amerikanische Kriegsgerät im militärgeschichtlichen Museum in Hanoi.

Hanoi wurde 1999 von der UNESCO der Titel „Stadt des Friedens“ verliehen, in Anerkennung seiner Beiträge zum Kampf für den Frieden und seiner Bemühungen zur Förderung der Gleichberechtigung in der Gesellschaft - als einzigem Ort im asiatisch-pazifischen Raum.

Man kann sich frei bewegen in der Hauptstadt Vietnams, die Polizei regelt vor allem den Verkehr, so scheint es, Militär ist ausschließlich im Rahmen der zahlreichen auch kleineren Gedenkstätten an den Krieg zu sehen. Eine friedliche Stadt. Doch wie frei ist das Land heute wirklich, nach 50 Jahren kommunistischer Diktatur?

Die Kathedrale von Hanoi: Religiöse Freiheit im Alltag?

Die katholische St. Josephs-Kathedrale ist neben dem Militärmuseum die zweite Touristenattraktion Hanois. Der gewaltige Bau im Herzen der Altstadt schaut ein wenig aus wie Notre-Dame in Paris, und das ist kein Zufall. Als die Franzosen 1873 das Land eroberten, wurde Hanoi 1883 Verwaltungszentrum der Kolonie Französisch-Indochina – mit einer katholischen Kathedrale als geistlichem Zentrum, eine buddhistische Pagode musste dafür weichen.

St.-Joseph-Kathedrale Hanoi
Die Gottesdienste in der St.-Joseph-Kathedrale in Hanoi sind sehr gut besucht. Die römisch-katholische Kathedrale im neugotischen Stil wurde vor etwa 120 Jahren erbaut.

Nach dem Rückzug der Franzosen 1954 wurde das Gotteshaus von den Kommunisten geschlossen und erst an Weihnachten 1990 wiedereröffnet. Heute ist die Kirche wieder ein blühender Ort christlichen Lebens. Frühmorgens und am Abend wird hier jeden Tag Messe gefeiert, am Sonntag gleich sechs Mal.

Der 23-jährige Huy, den wir beim Verlassen der Messe treffen, ist nicht einmal katholisch, besucht aber trotzdem gerne die Gottesdienste. Ihm gefällt die Atmosphäre der Ruhe im lauten Hanoi, das unter der Last des Verkehrs zu ersticken droht.

Bei acht Millionen Einwohnern rasen vier Millionen Scooter durch die engen Gassen, aber vielleicht sind es auch mehr, so genau weiß das auch niemand. Die Roller scheinen jedenfalls alle gleichzeitig auf den Straßen zu sein, mehrspurig und ohne die Beachtung irgendwelcher Verkehrsregeln.

Huy gefällt auch das Innere der Kirche, das mit der Pariser Schwesterkirche gar nichts gemein hat, sondern auf vietnamesische Art mit den zwei typischen Farben Gelb und Rot dekoriert ist. Alles normal also? Huy sagt, wer hier die Messe besucht, hat keine Nachteile.

Dass Christen in Vietnam auch unter Druck geraten können, beklagt das überkonfessionelle christliche Hilfswerk Open Doors. Neben den kommunistischen Behörden seien es oft die eigenen Angehörigen, die Druck ausübten, heißt es dort. Das Abweichen von herrschenden Traditionen gilt als Verrat.

Zu diesen Traditionen gehört zum Beispiel Animismus, der Glaube, dass in allen Gegenständen und Lebewesen bestimmte Geister wohnen, die den Menschen entweder helfen oder schaden können. Wenn jemand diesem Glauben den Rücken kehrt, werden die Geister erzürnt. Unglück oder Krankheit kommen dann über ihn, seine Familie oder die Gemeinschaft.

Hauskirchen und Bergdörfer: Wo Glaube gefährlich wird

Während historische christliche Gemeinschaften wie die römisch-katholischen Kirchen eine gewisse Freiheit genießen, sind die rund 1 Million Protestanten und Angehörige von Pfingstkirchen wegen ihres Glaubens starkem Druck und Gewalt ausgesetzt, vor allem in den ländlichen Gebieten in Zentral- und Nordvietnam.

Etwa 10.000 Menschen sind Mitglieder von Pfingstgemeinden, um die 40.000 Mitglieder von Bergvölkerkirchen. Rund 200.000 Christen treffen sich in illegalen Hauskirchen.

Open Doors erzählt die Geschichte von Sang (Name geändert), der in einer Bergregion im Norden aufgewachsen war und mit 14 Jahren durch einen reisenden Evangelisten von der Botschaft Jesu hört und Christ wurde. Bei seiner Familie kam die Bekehrung gar nicht gut an, der Vater drohte wegen der Angst vor den erzürnten Geistern, mit einer Schrotflinte die ganze Familie auszulöschen.

Sang verließ die Familie, hielt aber weiter Kontakt - und wurde nach einer Berufsausbildung zum Apotheker selbst Evangelist. Er begann für seinen Vater zu beten.

Mit seinem Motorrad besucht Sang abgeschiedene Dörfer seiner Provinz und verkündigt Jesu Botschaft. Wegen drohender Repressalien erwähnt er jedoch nie, Missionar zu sein.

„Ich sage einfach, dass ich meine Verwandten und Freunde besuche. Und wenn ich Menschen treffe, nehme ich mir Zeit, um mit ihnen zu reden. Dann beginne ich, ihnen aus dem Wort Gottes zu erzählen.“

Entscheidet sich ein Gesprächspartner für Jesus, ermutigt Sang ihn zum Besuch einer nahe gelegenen Hauskirche – auch wenn ihm bewusst ist, dass den Bekehrten manchmal die Vertreibung dafür droht. In seinem Dorf betreut er eine wachsende Gruppe von mittlerweile 20 Personen und liest mit ihnen in der Bibel.

Missionare wie Sang leben in Vietnam unter der ständigen Gefahr, festgenommen zu werden. Nay Y Blang war wegen seines Glaubens bereits sieben Jahre inhaftiert. Der 49-jährige Protestant gehört zur Volksgruppe der Ede im zentralen Bergland Vietnams. Er wurde 2023 eingesperrt.

Der Volksgerichtshof der Provinz Phu Yen verurteilte ihn dann Anfang 2024 zu viereinhalb Jahren Gefängnis wegen „Missbrauchs demokratischer Freiheiten“. Ihm wurde unter anderem vorgeworfen, Falschinformationen über die Religionsfreiheit zu verbreiten und die Religionspolitik verzerrt darzustellen. Es ging um Gebets-Treffen mit anderen Christen in seinem Haus zwischen 2019 und 2022.

Außerdem wurden seine Online-Gebetsgemeinschaften von der Regierung als reaktionär eingestuft. Blang informierte dabei auch über die Unterdrückung der Religionsfreiheit in Vietnam. Der Christ war bereits von 2005 bis 2010 wegen seines Glaubens in Haft und danach noch 24 Monate in Umerziehungslagern.

Turm Die vietnamesische Flagge Hanoi.
Die vietnamesische Flagge weht über dem militärgeschichtlichen Museum in Hanoi.

Verfassung und Kontrolle

Offiziell wird in Artikel 24 der vietnamesischen Verfassung von 2014 die „Glaubens- und Religionsfreiheit“ zugesichert. Jeder hat das Recht, „einer beliebigen Religion anzugehören oder auch keiner Religion“.

„Vor dem Gesetz sind alle Religionen gleich“, heißt es da, und: „Der Staat respektiert und schützt die Glaubens- und Religionsfreiheit.“

Dem evangelischen Christen Nay Y Blang nützte das nichts. Denn gleichzeitig erlaubt Artikel 14 der Verfassung Einschränkungen dieser Rechte unter Berufung auf nationale Sicherheit, soziale Ordnung und öffentliche Moral. ​Die Kontrolle der Religionsgemeinschaften erfolgt über die „Büros für religiöse Angelegenheiten“, die zur Verwaltungsstruktur der „Vaterländischen Front“ gehören.

2018 trat das „Gesetz über Glauben und Religion“ in Kraft, das eine umfassende Regelungen zur Religionsausübung festlegte. Es schreibt vor, dass alle Religionsgemeinschaften sich staatlich registrieren und ihre Aktivitäten genehmigen lassen müssen. Nicht registrierte Gruppen gelten als illegal und können strafrechtlich verfolgt werden. ​

Die registrierten Religionsgemeinschaften müssen regelmäßig berichten, was sie tun.​ Nicht registrierte Gruppen, wie unabhängige Hauskirchen oder bestimmte buddhistische Bewegungen, werden nach Auskunft von Amnesty International häufig schikaniert, überwacht oder sogar kriminalisiert. Berichte dokumentieren Fälle von Inhaftierungen, erzwungener Glaubensabkehr und Zerstörung von Gebetsstätten. ​

Sangs Gebete für seinen Vater wurden erhört – er wurde inzwischen selbst Christ. „Er war mein größter Verfolger, aber er wurde für mich zum größten Wunder“, erzählte Sang der Hilfsorganisation Open Doors. Seinen Sinneswechsel erklärte Sangs Vater mit positiven Veränderungen, die er an seinem Sohn seit seiner Bekehrung bemerkt hatte: Respekt und Liebe. Heute ist die ganze Familie in einer evangelischen Gemeinde aktiv.

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