Was ist christlicher Fundamentalismus?

Zunächst haben wir es mit einem Abgrenzungsbegriff zu tun. Kaum jemand, weder Individuen noch Religionen, bezeichnet sich selbst als fundamentalistisch. Schließlich ist der Begriff inzwischen negativ besetzt: Als fundamentalistisch gilt, wer starr an alten Grundsätzen und Dogmen festhält und sich jeder Modernisierung widersetzt. 

Im Falle des christlichen Fundamentalismus bezieht sich dies meist auf Denk- und Glaubensrichtungen, die sich explizit auf die Bibel als Grundlage (Fundament) und wortwörtlich inspiriertes Wort Gottes berufen. Fundamentalist*innen gehen dabei von zwei Annahmen aus:

1. Die Bibel ist unfehlbar: Alles, was in ihr über theologische Aspekte wie Wunder, Glaubensfragen oder das Leben nach dem Tod steht, ist uneingeschränkt wahr.

2. Die Bibel ist irrtumsfrei: Alle Fakten, auch historische, geografische, biologische oder physikalische, sind uneingeschränkt wahr. 

Viele Gläubige und Theolog*innen, insbesondere Protestant*innen, gehen mittlerweile unter dem Eindruck des wissenschaftlichen Fortschritts historisch-kritisch vor und versuchen, die Texte im Kontext ihrer Entstehung zu verstehen. Fundamentalist*innen bevorzugen dagegen einen eher intuitiven Zugang und glauben zudem an die absolute Unfehlbarkeit der biblischen Texte in jeglicher Hinsicht. Obendrein wird die Bibel zur höchsten Instanz über alle sozialen, moralischen und politischen Fragen erhoben.

Glaubensrichtungen, die dem christlichen Fundamentalismus zugerechnet werden, bezeichnen sich selbst oft als "bibeltreu" – sie wollen damit betonen, dass sie die Bibel im Gegensatz zu anderen – in ihren Augen modernen oder liberalen – Christ*innen noch ernst nehmen. 

Wie ist christlicher Fundamentalismus entstanden?

Der moderne christliche Fundamentalismus entstand Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts. Vornehmlich britische und amerikanische Protestant*innen reagierten damit auf ein zunehmend liberales Christentum, das in vielen Kirchen vertreten wurde.

Ihrer Auffassung nach hatten die liberalen Theolog*innen althergebrachte Auffassungen wie etwa die Irrtumslosigkeit und Unfehlbarkeit der Bibel missverstanden. Diese Auffassungen sahen sie als Grundlage des christlichen Glaubens an. 

Während moderne Protestant*innen versuchten, das Christentum auf den neuesten Stand der Wissenschaft zu bringen und biblischen Wundern skeptisch gegenüberstanden, lehnten Fundamentalist*innen diese Veränderungen ab.

Weitere Verbreitung fand die Ideologie in den 1910er Jahren nach der Veröffentlichung von "The Fundamentals", einer zwölfbändigen Sammlung von Aufsätzen, die von konservativen protestantischen Theolog*innen verfasst worden waren. Darin verteidigten sie ihre Überzeugungen. In den 1920er Jahren organisierte sich die Bewegung dann innerhalb der protestantischen Kirchen in den USA, vor allem bei den Presbyterianer*innen sowie den Baptist*innen und Methodist*innen.

Seine negative Konnotation erhielt der Begriff Fundamentalismus erst gegen Ende des 20. 

Wie sieht christlicher Fundamentalismus heute aus?

Der Begriff wird heute sowohl in der Umgangssprache als auch von Politik, Medien und Kirchenvertreter*innen zum Teil sehr ungenau verwendet und auf alle möglichen christlichen Strömungen bezogen. Meist steht dabei die Absicht im Vordergrund, die jeweiligen Ansichten zu diskreditieren. 

Häufig wird dabei nicht zwischen konservativen und fundamentalistischen christlichen Ansichten unterschieden. Bei konservativen Einstellungen, beispielsweise das Eintreten für traditionelle Familienwerte, das Vertreten einer Form des Kreationismus oder die Ablehnung von Schwangerschaftsabbrüchen und praktizierter Homosexualität, handelt es sich nicht um fundamentalistische Ansichten im engeren Sinne – auch wenn Fundamentalist*innen diesen Einstellungen voraussichtlich zustimmen werden.

Auch andere Ideologien, wie christlicher Nationalismus (ein besonders in den USA verbreitete Glaubensform), werden aufgrund einiger inhaltlicher Überschneidungen öfter mit Fundamentalismus verwechselt. Die Grenzen zwischen den Glaubensansätzen sind allerdings auch oft fließend, was eine genaue Definition umso schwieriger macht.

Relativ neu ist das Phänomen fundamentalistischer Influencer*innen, die über soziale Netzwerke viele, vor allem jugendliche User*innen erreichen. Ihr Weltbild ist größtenteils nicht konsequent fundamentalistisch, sondern bedient sich recht frei bestimmter Elemente des Fundamentalismus. 

Verwendete Quellen

Ernest R. Sandeen: The Roots of Fundamentalism. British & American Millenarianism.

James Barr: Fundamentalismus.

Christoph Urban: Fundamentalismus. Ein Abgrenzungsbegriff in religionspolitischen Debatten. 

Kommentare

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schlum453728 am Di, 12.11.2024 - 23:59 Link

Der Autor geht von einem spezifisch christlichen Fundamentalismusbegriff aus - historisch korrekt, weil Sache und Begriff zuerst unter britischen und nordamerikanischen Gruppierungen im späten 19. Jahrhundert entstanden.

Gängig aber ist inzwischen ein umfassender Begriff von religiösem und weltanschaulichem Fundamentalismus: Überfordert von den Zumutungen von Aufklärung und Pluralismus verwenden Menschen Motive, Begriffe, Riten und Lehren aus religiösen oder weltanschaulichen Traditionen, um daraus ein vermeintlich intaktes vermeintlich vormodernes Gebäude von Dogma, Ethos und Lebensstil zu konstruieren. Das scheinbar traditionelle Konstrukt erweist sich bei näherem Hinsehen als postmoderne Fluchtburg aus unantastbar erklärten Mauern.