Ein Gespenst geht um, nein nicht in Europa, sondern in Deutschland. Das Gespenst heißt: "Leitkultur".

Als sei ihnen ein böser Geist erschienen reagieren nicht wenige auf das Wort mit den immer gleichen Abwehrreflexen. Ein Wort, das andererseits Debatten erregt, die etwas Gespenstisches haben.

Bundesinnenminister Thomas de Maizière hat das Gespenst mal wieder auf die politische Theaterbühne geschubst: "Wir sind nicht Burka", ist der Satz, der hängen bleibt, und wohl auch hängen bleiben soll. Für den Auftritt des Gespensts mag es fragwürdige Gründe geben, aber es steht für etwas, dem wir uns stellen sollten.

Ein zentrales Argument derer, die die Debatte gerne möglichst schnell ersticken möchten, lautet: "Leitkultur" sei kein integrierender, sondern ein polarisierender Begriff. Wer von "Leitkultur" spricht, steht außerdem schnell in der Ecke rechtsaußen.

Doch die Frage ist damit nicht aus der Welt. Denn, ja, es gibt eine Leitkultur in diesem Land.

Ihr Kern sind die Menschenrechte, die Gleichberechtigung, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie. Viele Menschen spüren: Es lässt sich benennen, was damit kompatibel ist und was nicht.

Die freiheitliche Demokratie verteidigen - gegen völkischen Nationalismus ebenso wie gegen Islamisierung

Scharia-Gerichte sind es beispielsweise nicht. Und man kann sogar über das Menschen- und Frauenbild streiten, das hinter dem muslimischen Kopftuch steht. Die Muslime in Deutschland müssen das aushalten.

Diskurse über diese Fragen sind gut, wenn sie fair und mit Respekt geführt werden. Vielleicht wurden diese Diskurse in der Vergangenheit zu wenig geführt, in jedem Fall nicht gut genug.

Nicht kompatibel mit der Leitkultur der Menschenrechte ist andererseits: die Schere zwischen Reich und Arm immer weiter aufgehen zu lassen. Zwischen denen mit ökonomischen Chancen und denen, die keine Chance haben, weil sie alt oder pflegebedürftig sind, einen "ausländischen" Namen tragen oder arbeitslos sind.

Doch genau hier sorgt die von de Maizière angestoßene "Leitkultur"-Debatte für willkommene Ablenkung vom Schulz-Effekt und dem Thema "soziale Gerechtigkeit".

"Leitkultur" darf außerdem niemals so etwas sein wie eine katholische Monstranz, vor der Migranten demütig das Knie zu beugen haben. Integration bedeutet nicht Assimilation.

"Offenheit", "Vielfalt", "Toleranz" – das sind jedoch oft nur Nebelkerzen. Jeder kann sich darunter vorstellen, was er mag. Aber so richtig interessant wird es erst, wenn jeder konkret benennt, was die Hülsenwörter für ihn im Einzelnen bedeuten.

Migration bedeutet in unendlich vielen Fällen: "Deutsch plus". Migranten bereichern unser Land und machen es stärker.

Auf dem Weg zur Integration kann und wird es aber nicht ausbleiben, dass sich die mitgebrachten Herkunftskulturen transformieren. Wo und wie das bereits geschieht und vor allem: wo das noch geschehen muss, das wäre eine wirklich vielversprechende "Leitkultur"-Debatte.

 

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