Das Urteil sei "einstimmig und einmütig" ausgefallen, bekannte der Leiter der vierköpfigen Jury, Pfarrer Peter Marinkovic, bei der Preisübergabe. "Angesichts der Schreckensbilder, die uns täglich geliefert werden", sagte Marinkovic, "wird es heute immer wichtiger, nach vorne zu blicken und die Frage zu stellen: Wo wollen wir hin als Gesellschaft?" Roberto De Paolis’ Film "Cuori puri" setze diesen Gedanken von der einzigen, unteilbaren Zukunft der Menschheit "in ethisch wie filmästhetisch überzeugender Weise" um.

Regisseur De Paolis grüßte mit einer Videobotschaft aus Barcelona, wo er sich zu Dreharbeiten aufhält, in das "Black Box"-Kino im Münchner Kulturzentrum Gasteig. Die Übergabe des undotierten Ehrenpreises erfolgte ersatzweise an den italienischen Schauspieler und Komiker Rinaldo Talamonti. Der "One Future"-Preis der ökumenischen Interfilm-Akademie wurde beim Münchner Filmfest bereits zum 32. Mal vergeben.

"Cuori puri" ist eine preiswürdige Wahl. Vordergründig erzählt der Film die Geschichte ­einer unmöglichen Liebe. Agnese (wundervoll: Selene Caramazza) und Stefano (Simone Liberati) sind total verschieden. Sie ist 17, lebt mit ihrer streng katholischen Mutter zusammen und will bald ein Keuschheitsgelübde ablegen: "Cuori puri" ist nämlich die italienisch-katholische Version der Aktion "Wahre Liebe wartet", die sexuelle Enthaltsamkeit vor der Ehe propagiert. Wer mitmacht, legt bis zur Ehe einen "Ring der Reinheit" an.

 

Die Preisträger, Juroren und Laudatoren der ökumenischen Interfilm-Akademie beim Filmfest München 2017: Laudator Professor Heiner Stadler, Akademie-Ehrenpräsident Eckart Bruchner, CCC-Chefin und Produzentin Alice Brauner (für Ehrenpreisträger Artur Brauner), Jurypräsident Peter Marinkovic, Schauspieler Rinaldo Talamonti (für »One Future«-Preisträger Roberto de Paolis), Jurorinnen Fatima Abdollahyan und Svetlana Belesova, Regisseur Joseph Vilsmaier.
Die Preisträger, Juroren und Laudatoren der ökumenischen Interfilm-Akademie beim Filmfest München 2017: Laudator Professor Heiner Stadler, Akademie-Ehrenpräsident Eckart Bruchner, CCC-Chefin und Produzentin Alice Brauner (für Ehrenpreisträger Artur Brauner), Jurypräsident Peter Marinkovic, Schauspieler Rinaldo Talamonti (für »One Future«-Preisträger Roberto de Paolis), Jurorinnen Fatima Abdollahyan und Svetlana Belesova, Regisseur Joseph Vilsmaier.

 

Jesus ist wie ein Navi im Auto

Stefano, Mitte 20, kommt aus der Unterschicht. Seine Eltern sind arbeitslos und verlieren im Verlauf des Films ihre Wohnung. Stefanos Kampf dreht sich eher darum, die schlecht bezahlten Jobs, die er bekommt, zu behalten und nicht in Kriminalität und Drogenhandel abzurutschen.

Die Liebesgeschichte von Stefano und ­Agnese entwickelt sich vor dem Hintergrund der Flüchtlingskrise und aktueller sozialer Spannungen in Rom. Stefano und seine im Wohnwagen lebenden Eltern stehen für den abgehängten Teil in den europäischen Gesellschaften, der sich existenziell bedroht sieht und die Gründe dafür in "Armutskonkurrenz" auch bei den Migranten sucht.

Agneses streng katholische Mutter ist dagegen stark in der Flüchtlingshilfe ihrer Gemeinde engagiert. Sie sammelt Kleidung und Spielzeug für die Migranten, die sie zusammen mit Agnese regelmäßig besucht und betreut. Doch eben diese werden für Stefano zur persönlichen Gefahr: Wegen Agnese und der Flüchtlinge, die auf dem Parkplatz randalieren, den er bewachen soll, verliert er seinen Job.

 

»I am not a witch« von Rungano Nyoni: Die neunjährige Shula muss als Hexe angebunden werden, damit sie nicht davonfliegt.
»I am not a witch« – Hexen als gefesselte Frauen: Die neunjährige Shula wird von den Menschen in ihrem Dorf in Sambia für eine Hexe gehalten. Und die muss man anbinden, damit sie nicht davonfliegen. Die walisisch-sambische Regisseurin Rungano Nyoni zaubert in ihrem schrägen und originellen Erstlingsfilm kuriose Bilder auf die Leinwand, die man nicht mehr aus dem Kopf bekommt.

Die "Cuori puri"-Bewegung hat ihren Namen aus den Seligpreisungen im Matthäus­evangelium: "Selig sind, die reines Herzens sind; denn sie werden Gott schauen." (5, 8)

Aber wie geht das: sich ein reines Herz bewahren unter den Umständen, in die wir geworfen sind? Dieser Frage geht "Cuori puri" nach und verurteilt dabei keinen seiner Protagonisten. Auch nicht den katholischen Priester, der die "Cuori puri"-Jugendgruppe begleitet. Er ist dick, witzig, lebensklug – und trotz des Dogmas, für das er steht, sympathisch. Er vergleicht die Beziehung, die Gott mit jedem von uns sucht, mit einem Navi im Auto. "Schreit uns das Gerät an, ›Du kommst in die Hölle!‹, wenn wir seiner Route nicht folgen?", fragt er die Jugendlichen. "Nein! Vielleicht sagt das Navi, ›Wenn möglich, bitte wenden‹. Vor allem aber berechnet es ganz einfach die Route für uns neu."

Geschichten von der Macht der Liebe

Doch Dogmen helfen wenig auf dem Weg zum "cuore puro" und Vorurteile schon gar nicht, zeigt die Lebenserfahrung. Nur mit Liebe, und die kann riskant sein, das zeigt der Film, gewinnen wir den Kampf um die Seligkeit des reinen Herzens. Das kann die Jungfräulichkeit oder den Job kosten.

Ein Streifzug durchs weitere Filmfestprogramm entlang der Interessenslinie "Religion" bot noch andere Entdeckungen. Festivals wie das in München bieten neben großer Dichte und thematischer Fülle Filme aus Ländern, deren Produktionen es in der Regel nicht in die deutschen Kinos schaffen und – wenn überhaupt – irgendwann höchstens im TV-Spätprogramm zu sehen sind. Das südamerikanische Land Chile beispielsweise erlebt seit dem Ende der Diktatur einen veritablen Filmboom. Mit "El Cristo ­ciego" (Der blinde Christus) präsentierte der chilenische Regisseur Christopher Murray einen wunderbar sperrigen, zugleich frommen und ungläubigen Christusfilm, der von ferne an den legendären und für den Oscar nominierten "Jesus de Montréal" von Denys Arcand aus dem Jahr 1989 erinnert.

Filme, denen ein größeres Publikum zu wünschen ist

Der Film entstand mit Laienschauspielern in einem der ärmsten Landstriche des Landes in der Atacamawüste an der Grenze zu Peru. Die Gegend gilt als frömmste, aber auch die mit dem größten Aberglauben.

Seit er als Junge eine heilige Offenbarung in der Wüste erlebte, predigt Rafael das Wort Gottes. Als er vom Unfall eines Freundes erfährt, macht er sich auf die Reise durch die Wüste, im Glauben, ein Wunder bewirken zu können. Den Menschen, denen er auf seinem Trip begegnet – Minenarbeiter, Drogenabhängige –, erscheint er als neuer Christus. Das Wunder bleibt aus. Doch die vermeintliche Gottverlassenheit der Welt ist letztlich nichts anderes als Gottes Aufforderung an uns, diese Welt mit Liebe zu füllen.

Dass andererseits Terror "nichts mit dem Islam zu tun" habe, kann niemand mehr sagen, der den niederländischen Film "Layla M." von Mijke de Jong mit Nora el Koussour und Ilias Addab gesehen hat. Allerdings in anderer, vielschichtigerer Weise, als es islamhassende Populisten gerne behaupten. Es geht um Freiheit, Identität und echte Zugehörigkeit, die eine junge Frau in der Religion ihrer Herkunft zu finden hofft – und die erstickenden Fesseln, die diese ihr letztlich anlegt.

Mit "I am not a witch" schließlich stellte die walisisch-sambische Regisseurin Rungano Nyoni einen bezaubernd schrägen und originellen Erstlingsfilm vor, der kuriose Bilder auf die Leinwand zaubert, die man nicht mehr aus dem Kopf bekommt. Hexerei ist für viele Menschen in Sambia eine Realität. Die Filmemacherin zeigt in ihrer Filmgroteske über das Waisenmädchen Shula satirisch, dass es aber weniger die Hexerei ist, an der das afrikanische Land leidet, als dogmatische Traditionen, Frauenverachtung und Korruption.

 

»Cuori puri« – reine Herzen von Roberto De Paolis - Agnese (Selene Caramazza) und Stefano (Simone Liberati) am Zaun, der das von Agnese mit betreute Flüchtlingslager und den von Stefano zu bewachenden Parkplatz trennt.
»Cuori puri« (Reine Herzen) von Roberto De Paolis erzählt die Geschichte einer unmöglichen Liebe vor dem Hintergrund der Flüchtlingskrise und aktueller sozialer Spannungen in Rom. Die Liebesgeschichte von Stefano (Simone Liberati) und ­Agnese (Selene Caramazza) entwickelt sich vor dem Hintergrund der Flüchtlingskrise und aktueller sozialer Spannungen in Rom. Stefano (Simone Liberati), Mitte 20, kommt aus der Unterschicht. Seine Eltern sind arbeitslos und verlieren im Verlauf des Films ihre Wohnung. Stefanos Kampf dreht sich eher darum, die schlecht bezahlten Jobs, die er bekommt, zu behalten und nicht in Kriminalität und Drogenhandel abzurutschen. Agnese (Selene Caramazza) ist 17 und lebt bei ihrer streng katholischen Mutter. Beide sind stark in der Flüchtlingshilfe ihrer Gemeinde engagiert. Sie sammeln Kleidung und Spielzeug für die Migranten, die sie zusammen mit Agnese regelmäßig besuchen und betreuen. Doch eben diese Migranten werden für Stefano zur persönlichen Gefahr: Wegen Agnese und der Flüchtlinge, die auf dem Parkplatz randalieren, den er bewachen soll, verliert er seinen Job. Und es kommt noch schlimmer...

Das Foto oben zeigt Agnese (Selene Caramazza) und Stefano (Simone Liberati) am Zaun, der das von Agnese mit betreute Flüchtlingslager und den von Stefano zu bewachenden Parkplatz trennt.
»Cuori puri« (Reine Herzen) von Roberto De Paolis - Stefano bewacht »seinen« Parkplatz, auf dem sich auch ein Roma-Lager befindet.
Stefano und seine im Wohnwagen lebenden Eltern stehen für den abgehängten Teil in den europäischen Gesellschaften, der sich existenziell bedroht sieht und die Gründe dafür in »Armutskonkurrenz« auch bei den Migranten sucht.
»Cuori puri« – reine Herzen von Roberto de Paolis mit Selene ­Caramazza und Simone Liberati.
»Cuori puri« – reine Herzen: Roberto De Paolis’ Drama über eine fromme Teenagerin (Selene ­Caramazza), die kurz davor steht, ein Keuschheitsgelübde abzulegen, und einen römischen Parkplatzwächter (Simone Liberati) sorgte bereits auf dem Filmfest in Cannes für ­Aufsehen.
»Cuori puri« – reine Herzen von Roberto De Paolis mit Selene ­Caramazza und Simone Liberati.
»Cuori puri« – reine Herzen von Roberto De Paolis (Italien, 2017): Agnese (Selene ­Caramazza) und Stefano (Simone Liberati) sind total verschieden. Sie ist erst 17, lebt mit ihrer streng katholischen Mutter und steht kurz davor, ein Keuschheitsgelübde abzulegen. Stefano, 25, jobbt auf einem Parkplatz hat ein heftiges Temperament, eine schwierige Vergangenheit und braucht dringend Geld. Ihre Romanze entwickelt sich aus einer unerwarteten Begegnung, die beide vom ersten Moment an mit den Fragen nach Moral und Vertrauen konfrontiert.
»Layla M.« von Mijke de Jong mit Nora El Koussour und Ilias Addab.
»Layla M.« von Mijke de Jong (Niederlande, 2016): Die 18-jährige Layla (Nora El Koussour) lebt mit ihrer Familie in Amsterdam. Als tiefgläubige Muslima fühlt sie sich nicht nur in den Niederlanden, sondern auch in ihrer eigenen Familie isoliert. Nachdem sie wegen der Teilnahme an einer Demonstration verhaftet wird, verlässt Layla die Schule und heiratet den Dschihadisten Abdel (Ilias Addab). Sie versuchen Zweifler und Unentschlossene zu missionieren und fliehen schließlich in den Nahen Osten. Dort stellt Layla fest, wie sehr sie dort wegen ihres Geschlechts von vielen Aspekten des gesellschaftlichen Lebens ausgeschlossen ist. Die Sehnsucht nach ihrem früheren Leben keimt in ihr auf. All dies geschieht, während ihr junger Ehemann droht, ein mörderisches Opfer zu erbringen.
Vom Verschwinden hinter dem Niqab: »Layla M.« von Mijke de Jong mit Nora El Koussour.
Vom Verschwinden einer jungen Frau hinter dem Niqab: »Layla M.« von Mijke de Jong mit Nora El Koussour.
»El Cristo ciego« von Christopher Murray: Rafael fühlt sich berufen und tauft ein Kind.
»El Cristo ciego« (Der blinde Christus) des chilenischen Regisseurs Christopher Murray: Rafael fühlt sich seit einem Erweckungserlebnis, das er als Kind in der Wüste hatte, von Gott berufen. Inzwischen um die 30, arbeitet er als Mechaniker in einem Dorf im trockenen Norden Chiles. Unterwegs zu seinem durch Krankheit ins Elend gestürzten Kindheitsfreund tauft er einen Jungen, den die Menschen zu ihm gebracht haben. Denn den Menschen, denen er auf seinem Trip begegnet – Minenarbeiter, Drogenabhängige und andere, die am Existenzminimum leben – erscheint er als neuer Christus. Doch das erwartete Wunder bleibt aus. Ist es, wie der Hausmeister einer verwaisten Kirche sagt: »Gott hat die Welt verlassen, damit Christus sie mit Liebe füllen konnte. Christus hat die Welt verlassen, damit wir sie mit Liebe füllen«?
»I am not a witch« von Rungano Nyoni - Shula als Hexe gekennzeichnet im Bus unterwegs.
Shula wird von einem profitgeilen Provinzpolitiker bei polizeilich-richterlichen Aufgaben eingesetzt. Doch als sie Regen machen soll, scheitert sie. Zunächst. Aber der Preis dafür ist hoch.
»I am not a witch« von Rungano Nyoni zeigt satirisch, dass es weniger die Hexerei ist, an der das afrikanische Land Sambia leidet, als dogmatische Traditionen, Frauenverachtung und Korruption.
»I am not a witch« von Rungano Nyoni zeigt satirisch, dass es weniger die Hexerei ist, an der das afrikanische Land Sambia leidet, als dogmatische Traditionen, Frauenverachtung und Korruption.