Das Urteil sei "einstimmig und einmütig" ausgefallen, bekannte der Leiter der vierköpfigen Jury, Pfarrer Peter Marinkovic, bei der Preisübergabe. "Angesichts der Schreckensbilder, die uns täglich geliefert werden", sagte Marinkovic, "wird es heute immer wichtiger, nach vorne zu blicken und die Frage zu stellen: Wo wollen wir hin als Gesellschaft?" Roberto De Paolis’ Film "Cuori puri" setze diesen Gedanken von der einzigen, unteilbaren Zukunft der Menschheit "in ethisch wie filmästhetisch überzeugender Weise" um.
Regisseur De Paolis grüßte mit einer Videobotschaft aus Barcelona, wo er sich zu Dreharbeiten aufhält, in das "Black Box"-Kino im Münchner Kulturzentrum Gasteig. Die Übergabe des undotierten Ehrenpreises erfolgte ersatzweise an den italienischen Schauspieler und Komiker Rinaldo Talamonti. Der "One Future"-Preis der ökumenischen Interfilm-Akademie wurde beim Münchner Filmfest bereits zum 32. Mal vergeben.
"Cuori puri" ist eine preiswürdige Wahl. Vordergründig erzählt der Film die Geschichte einer unmöglichen Liebe. Agnese (wundervoll: Selene Caramazza) und Stefano (Simone Liberati) sind total verschieden. Sie ist 17, lebt mit ihrer streng katholischen Mutter zusammen und will bald ein Keuschheitsgelübde ablegen: "Cuori puri" ist nämlich die italienisch-katholische Version der Aktion "Wahre Liebe wartet", die sexuelle Enthaltsamkeit vor der Ehe propagiert. Wer mitmacht, legt bis zur Ehe einen "Ring der Reinheit" an.
Jesus ist wie ein Navi im Auto
Stefano, Mitte 20, kommt aus der Unterschicht. Seine Eltern sind arbeitslos und verlieren im Verlauf des Films ihre Wohnung. Stefanos Kampf dreht sich eher darum, die schlecht bezahlten Jobs, die er bekommt, zu behalten und nicht in Kriminalität und Drogenhandel abzurutschen.
Die Liebesgeschichte von Stefano und Agnese entwickelt sich vor dem Hintergrund der Flüchtlingskrise und aktueller sozialer Spannungen in Rom. Stefano und seine im Wohnwagen lebenden Eltern stehen für den abgehängten Teil in den europäischen Gesellschaften, der sich existenziell bedroht sieht und die Gründe dafür in "Armutskonkurrenz" auch bei den Migranten sucht.
Agneses streng katholische Mutter ist dagegen stark in der Flüchtlingshilfe ihrer Gemeinde engagiert. Sie sammelt Kleidung und Spielzeug für die Migranten, die sie zusammen mit Agnese regelmäßig besucht und betreut. Doch eben diese werden für Stefano zur persönlichen Gefahr: Wegen Agnese und der Flüchtlinge, die auf dem Parkplatz randalieren, den er bewachen soll, verliert er seinen Job.
Die "Cuori puri"-Bewegung hat ihren Namen aus den Seligpreisungen im Matthäusevangelium: "Selig sind, die reines Herzens sind; denn sie werden Gott schauen." (5, 8)
Aber wie geht das: sich ein reines Herz bewahren unter den Umständen, in die wir geworfen sind? Dieser Frage geht "Cuori puri" nach und verurteilt dabei keinen seiner Protagonisten. Auch nicht den katholischen Priester, der die "Cuori puri"-Jugendgruppe begleitet. Er ist dick, witzig, lebensklug – und trotz des Dogmas, für das er steht, sympathisch. Er vergleicht die Beziehung, die Gott mit jedem von uns sucht, mit einem Navi im Auto. "Schreit uns das Gerät an, ›Du kommst in die Hölle!‹, wenn wir seiner Route nicht folgen?", fragt er die Jugendlichen. "Nein! Vielleicht sagt das Navi, ›Wenn möglich, bitte wenden‹. Vor allem aber berechnet es ganz einfach die Route für uns neu."
Geschichten von der Macht der Liebe
Doch Dogmen helfen wenig auf dem Weg zum "cuore puro" und Vorurteile schon gar nicht, zeigt die Lebenserfahrung. Nur mit Liebe, und die kann riskant sein, das zeigt der Film, gewinnen wir den Kampf um die Seligkeit des reinen Herzens. Das kann die Jungfräulichkeit oder den Job kosten.
Ein Streifzug durchs weitere Filmfestprogramm entlang der Interessenslinie "Religion" bot noch andere Entdeckungen. Festivals wie das in München bieten neben großer Dichte und thematischer Fülle Filme aus Ländern, deren Produktionen es in der Regel nicht in die deutschen Kinos schaffen und – wenn überhaupt – irgendwann höchstens im TV-Spätprogramm zu sehen sind. Das südamerikanische Land Chile beispielsweise erlebt seit dem Ende der Diktatur einen veritablen Filmboom. Mit "El Cristo ciego" (Der blinde Christus) präsentierte der chilenische Regisseur Christopher Murray einen wunderbar sperrigen, zugleich frommen und ungläubigen Christusfilm, der von ferne an den legendären und für den Oscar nominierten "Jesus de Montréal" von Denys Arcand aus dem Jahr 1989 erinnert.
Filme, denen ein größeres Publikum zu wünschen ist
Der Film entstand mit Laienschauspielern in einem der ärmsten Landstriche des Landes in der Atacamawüste an der Grenze zu Peru. Die Gegend gilt als frömmste, aber auch die mit dem größten Aberglauben.
Seit er als Junge eine heilige Offenbarung in der Wüste erlebte, predigt Rafael das Wort Gottes. Als er vom Unfall eines Freundes erfährt, macht er sich auf die Reise durch die Wüste, im Glauben, ein Wunder bewirken zu können. Den Menschen, denen er auf seinem Trip begegnet – Minenarbeiter, Drogenabhängige –, erscheint er als neuer Christus. Das Wunder bleibt aus. Doch die vermeintliche Gottverlassenheit der Welt ist letztlich nichts anderes als Gottes Aufforderung an uns, diese Welt mit Liebe zu füllen.
Dass andererseits Terror "nichts mit dem Islam zu tun" habe, kann niemand mehr sagen, der den niederländischen Film "Layla M." von Mijke de Jong mit Nora el Koussour und Ilias Addab gesehen hat. Allerdings in anderer, vielschichtigerer Weise, als es islamhassende Populisten gerne behaupten. Es geht um Freiheit, Identität und echte Zugehörigkeit, die eine junge Frau in der Religion ihrer Herkunft zu finden hofft – und die erstickenden Fesseln, die diese ihr letztlich anlegt.
Mit "I am not a witch" schließlich stellte die walisisch-sambische Regisseurin Rungano Nyoni einen bezaubernd schrägen und originellen Erstlingsfilm vor, der kuriose Bilder auf die Leinwand zaubert, die man nicht mehr aus dem Kopf bekommt. Hexerei ist für viele Menschen in Sambia eine Realität. Die Filmemacherin zeigt in ihrer Filmgroteske über das Waisenmädchen Shula satirisch, dass es aber weniger die Hexerei ist, an der das afrikanische Land leidet, als dogmatische Traditionen, Frauenverachtung und Korruption.