Was ist Kitsch, was ist Kunst? An Weihnachten werden die ästhetischen Geschmacksnerven besonders strapaziert. Der Landeskirchliche Kunstbeauftragte Helmut Braun sagt, wo für ihn die Grenze zum Kitsch liegt und warum er eine Krippe hat.

 

  Wie geht es Ihnen als Kunsthistoriker, wenn Sie an Weihnachten Engelfiguren und sonstigen Kitsch sehen?

Helmut Braun: Es ist zu viel. Man wird von oberflächlicher Gefühlsduselei beinahe erschlagen und mich nervt es sehr. Ich vermeide es, in der Weihnachtszeit durch Städte zu gehen und Einkäufe zu machen.

  Wo liegt denn die Grenze zwischen Kunst und Kitsch?

Braun: Auch Kunst kann Kitsch werden, wenn sie reproduziert, verkleinert oder verniedlicht wird; wenn sie in den Herrgottswinkel im Wohnzimmer wandert. Es gibt Kunstverlage, die tatsächlich Picasso, Rodin oder Munch nach Belieben reproduzieren. Viele Leute kaufen sich Reproduktionen, weil sie sich nicht mit Kunst auseinandersetzen, nicht darüber nachdenken wollen. Sie benutzen Kunst und degradieren sie so zu Kitsch.

  Was spricht dagegen, dass sich Leute an einem kleinen Rodin auf dem Wohnzimmertisch erfreuen?

Braun: Jean-Christophe Ammann, renommierter Kunsthistoriker und Kurator, hat mal gesagt: »Objekte zeitgenössischer Kunst sind sinnlich wahrnehmbare Denkgegenstände«. Es ist also legitim, sich daran zu erfreuen. Es müsste aber dann weitergehen. Wenn kein Dialog mit dem Kunstwerk entsteht, nimmt man der Kunst den Sinn, neue Sichtweisen zu eröffnen. Kunst bemüht sich um einen geistigen Gehalt. Bei Kitsch geht es nur um Oberfläche und um die Vermeidung eines »horror vacui«. Wir umgeben uns gerne mit dem, was beruhigt oder ein Heimatgefühl vermittelt. Wir müssen nicht darüber nachdenken oder uns damit auseinandersetzen. Qualitätvolle Kunst dagegen schult unsere Wahrnehmung und kann helfen, die eigene Haltung zu überdenken.

  Ein beliebtes Beispiel ist die Holzfigur von Dorothea Steigerwald: Ein kleines Kind kuschelt sich in eine Hand. Ist das Kitsch?

Braun: Das ist Edelkitsch. Hier wird die Gewissheit vermittelt, dass ich in Gottes Hand liege und es dort sehr bequem ist. Für viele ist das ein schönes Gefühl. Es besteht jedoch die Gefahr, sich hineinzulegen und nichts mehr zur eigenen Lebensgestaltung beizutragen. Eine Gottesbeziehung ist nicht nur kindliche Geborgenheit. Wir sollten an dieser Stelle aber auch differenzieren zwischen einer persönlichen und privaten Lebenssituation und dem öffentlichen Raum einer Kirche. Leider stelle ich hier eine Vermischung fest und man findet genau diese Art von Dekoration häufig in unseren Kirchen. Es gibt eine schleichende Vereinnahmung der Kirchenräume durch kitschige Dekoration.

  In katholischen Kirchen mit ihren Heiligenfiguren ist doch noch mehr Kitsch vertreten. Haben wir Evangelische eine größere Kitschbremse als die Katholiken?

Braun: Das mag sein. Luther hat ja zu den Bildern gesagt, ihr könnt sie haben, sie sind aber nicht heilsnotwendig. Wichtig war ihm, dass wir Heiligenfiguren nicht anbeten. Es mag sein, dass wir diesen Dingen daher kritischer gegenüberstehen. Vielleicht erscheinen uns deshalb viele evangelische Kirchenräume sehr nüchtern. Ich muss aber auch sagen, bei uns gibt es verstärkt die Nachfrage nach Meditationsecken in Kirchen. Auch sie unterliegen der beschriebenen Gefahr. Ein Kollege nennt das Phänomen »Meditationsbiotope«. Sie finden dort dann einen Sandhaufen, Kerzen und Blumen aller Art. Es entstehen ganz merkwürdige »Wohlfühlbiotope«, die ich für sehr grenzwertig halte. Interessant ist auch, dass häufig Natur in den Raum hineingetragen wird: Sand, Zweige oder Herbstlaub, das auf dem Boden verteilt wird. Das ganze »Biotop« wird mit farbigen und bunten Bändern oder Schals eingerahmt oder zusätzlich mit Kalenderbildern geschmückt. Das finde ich interessant, weil man doch lieber in der Natur spazieren gehen sollte, als die Natur in einen Raum zu holen, um zu meditieren. Es darf nicht darum gehen, Kirchenräume als Wohlfühlräume zu gestalten, das ist viel zu wenig und nicht der Anspruch, den wir als Kirche haben sollten. Kirchenräume sind nun mal keine Wohnzimmer.

  Zu Weihnachten werden ja viele Krippen aufgestellt. Ist eine Krippe an sich schon kitschig?

Braun: Es gibt sehr hochwertige Krippen, die kunsthandwerklich auf hohem Niveau stehen - zum Beispiel in der wunderbaren Krippenausstellung des Bayerischen Nationalmuseums. Vielerorts sehe ich aber auch Krippen, die tatsächlich Massenware sind. Daneben stellen manche Gemeinden selbstgebastelte Krippenfiguren auf. Da gibt es Figuren, die einen gewissen künstlerischen Anspruch haben, manche haben auch gar keinen. Wenn das eingebunden ist in eine solide Gemeindearbeit, etwa immer wieder neu gemeinsam erarbeitet wird, hat es für mich aber dennoch Vorrang vor der Anschaffung von Massenware.

  Jetzt mal ans Private. Steht bei Ihnen zu Hause eine Krippe an Weihnachten?

Braun: Ja, eine Krippe, die von einem Künstler aus Brasilien geschnitzt wurde. Sie ist aus einem ganz schlichten Zedernholz. Wir haben dazu auch eine einfache Baracke. Diese Krippe ist individuell gefertigt und spiegelt auch die problematische Lage in vielen Ländern Südamerikas wider. Dadurch hat sie einen zeitgemäßen Bezug.

  Und stehen bei Ihnen Engelfiguren oder hängen vielleicht am Weihnachtsbaum?

Braun: Ja, zu dieser Krippe gibt es zwei passende Engel, die dann links und rechts von der Baracke stehen. Und tatsächlich steht bei uns auch ein Baum mit einem Engel aus Zinn, den mein Vater als Zinnfigurensammler selbst gegossen und bemalt hat.

  So ganz verschließen Sie sich der Weihnachtsgefühlsduselei also doch nicht. Könnte man sagen: Kitsch hat seine Zeit und anspruchsvolle Kunst hat ihre Zeit?

Braun: Wenn individuelle Stücke, zu denen man eine Verbindung hat, zu leicht konsumierbarer Massenware mutieren, werden sie zu Kitsch. Für mich ist Kitsch tatsächlich nur Zeitverschwendung. Ja - vieles hat seine Zeit und gehört auch in seine jeweilige Zeit. Aber ich glaube, für Beliebigkeit, Belanglosigkeit und Kitsch sollten wir uns keine Zeit nehmen.