Oldie but Goldie: "Jim Knopf", ein Klassiker der Kinderliteratur, wird 60 - der erste Band erschien erstmals am 9. August 1960, verfasst von Michael Ende, der damals in München lebte. Können die beiden Freunde Jim und Lukas, der Lokomotivführer, nicht getrost in Rente gehen?
Wirkt die Geschichte von ihrer Abenteuerfahrt mit einer Lokomotive übers Meer für heutige Leserinnen und Leser nicht ziemlich angestaubt? Keineswegs - eher im Gegenteil, sagt Literaturwissenschaftler und Vorsitzender des Arbeitskreises für Jugendliteratur Ralf Schweikart aus Hofheim gegenüber Sonntagsblatt.de.
Herr Schweikart, woran liegt es, dass "Jim Knopf" nach 60 Jahren immer noch auf soviel Faszination stößt? Erst 2018 gab es den Kinofilm, der zweite Teil folgt bald.
Ralf Schweikart: Nun erstens ist es gerade im Trend, ältere Stoffe fürs Hier und Jetzt zu verfilmen, wie "Bibi & Tina" oder "Das doppelte Lottchen". Zweitens denke ich, waren speziell für "Jim Knopf" jetzt einfach die technischen Möglichkeiten für einen effektvollen Realfilm da. Und die Geschichte selbst ist zeitlos.
Zeitlos, weil an keine Epoche gebunden - oder weil sie Jung und Alt gleichermaßen anspricht?
Schweikart: "Jim Knopf" war eines der ersten "All-Age"-Bücher und wurde von Kindern und Erwachsenen gleichermaßen gelesen.
Das ist Michael Ende später auch mit der "Unendlichen Geschichte" oder "Momo" geglückt - und dann erst wieder Joanne K. Rowling mit "Harry Potter".
Warum begeistert "Jim Knopf" inhaltlich?
Schweikart: Darin steckt eine klassische Heldenreise: Zwei sehr unterschiedliche Figuren erleben Abenteuer und bestehen Prüfungen in einer fantastischen Welt, und am Ende retten sie die Prinzessin. Diese Grundstruktur ist zeitlos und funktioniert großartig, wenn die Geschichte gut erzählt ist. "Jim Knopf" spielt in einer kleinen, artifiziellen Welt mit einer alten Dampflokomotive, einem König, einer Art chinesischem Reich. Solche Einzelheiten wirken wie ein Anti-Aging-Gen. Dagegen haben viele in der Gegenwart handelnden Erzählungen ein viel kürzeres Mindesthaltbarkeitsdatum, etwa Teenie-Freundschafts-Geschichten: Wenn "krass" nicht mehr gesagt wird oder darin das falsche Handy auftaucht - schon sind sie veraltet. In "Jim Knopf" gibt es nichts dergleichen, höchstens sprachlich einen leichten Alterungsprozess.
Welche Rolle spielen die Charaktere?
Schweikart: Die Kombination aus den unterschiedlichen Charakteren ist schon stark: der brummige Lukas und der kleine Junge Jim. Hinzu kommen all die anderen Figuren, auch die Lokomotive Emma als Wesen, das sogar Nachwuchs bekommt. Lukas und Jim rutschen unfreiwillig ins Abenteuer, werden zu einem Team auf Augenhöhe zusammengeschweißt, finden gemeinsam immer wieder Auswege aus verzwickten Situationen, und man hofft - und ahnt -, dass sie die schweren Aufgaben lösen und zu einem guten Ende führen.
Michael Ende wurde früher "Eskapismus" vorgeworfen - ist da etwas dran?
Schweikart: Dieser Vorwurf gilt vielen Titeln der fantastischen Literatur. Aber sehr oft dienen fantastische Welten dazu, Grundfragen über Gut und Böse, über Moral und Unmoral, über Macht und Ohnmacht zu behandeln. Von daher können sie auch ganz gegenteilig wahrgenommen werden, wenn die Leser sich auf diese Ebenen einlassen.
Die Fantastik ist in Deutschland eher unterbelichtet, bekommt aber durch Streaming-Serien neuen Aufwind. Was unterscheidet sie von Endes Fantastik?
Schweikart: Heute wird im fantastischen Genre das Böse oft mit Gewalt besiegt. Bei "Jim Knopf" dagegen wird aus der schrecklichen Frau Mahlzahn am Ende ein weiser chinesischer Drache; sie macht also eine Wandlung und sogar eine Läuterung durch, anstatt vernichtet zu werden. Die Geschichte hat also ein versöhnliches Ende, und diese positive Grundhaltung durchzieht das ganze Buch.
Ende sagte immer, er habe keine pädagogische Absicht, sondern wolle nur gute Geschichten erzählen. Trotzdem vermittelt "Jim Knopf" klare Werte - welche?
Schweikart: Es ist vor allem die große Freundschaftsgeschichte zwischen Lukas und Jim. Und die positive Auflösung vermittelt, dass es um ein harmonisches Miteinander als einen Grundwert geht.
Auch Figuren wie Herr Turtur, der Scheinriese, finden ihre Aufgabe - es bleibt keiner zurück, auch wenn die Lösung manchmal etwas Zeit braucht.
Die Geschichte hat einen integrativen Charakter, was ihre Multikulti-Ausrichtung am deutlichsten zeigt: Der schwarze Held und die chinesische Prinzessin finden zusammen, ohne dass Herkunft und Hautfarbe eine Rolle spielen.
Also hat Michael Ende durchaus eine Botschaft?
Schweikart: Ja, er will schon etwas vermitteln. Er hat mal gesagt, dass ihn vier Personen stark geprägt haben, eine davon war Charles Darwin. Es gibt die Theorie, dass es Parallelen gibt zwischen "Jim Knopf" und Darwins Evolutionstheorie. So taucht etwa im Buch der Rassebegriff auf, als sich der Halbdrache Nepomuk beklagt, dass die reinrassigen Drachen ihn nicht ernst nehmen. Das ist eine klare Abgrenzung von der NS-Ideologie, ebenso wie die Beschreibung des Drills in der Schule. Die Nazis haben die Evolutionstheorie missgedeutet. Das will Ende wieder zurückführen. Der Halbdrache ist es dann, der den Freunden hilft, während die reinrassigen Drachen grausam sind. Das konterkariert den Nazi-Rassenwahn.
Aber man muss es nicht herauslesen.
Schweikart: Das ist die Kunst des Autors: seine Botschaft zu verstecken, ohne dass es wie eine Belehrung wirkt. Kinder merken das, ob man ihnen etwas beibringen will oder ihnen eine spannende Geschichte anbietet. Wenn sie etwas für die Schule lesen müssen beispielsweise, ist das eher ein Lesen-Müssen und weniger attraktiv als das Lesen selbstgewählter Lektüre in der Freizeit - das bestätigen Untersuchungen.
Die beiden "Jim Knopf"-Bände haben zusammen mehr als 500 Seiten, es gibt wenige Bilder. Schaffen Zehnjährige so was heute überhaupt noch?
Schweikart: Das ist für einen zehnjährigen Leser schon viel Stoff, ein echter Schmöker. Daher sollte er schon leseerfahren sein, denn "Jim Knopf" führt weg von dem Trend zu kürzeren Büchern mit weniger Text pro Seite, mehr Bildern, größeren Zeilenabständen. Aber Vorlesen ist immer eine gute Alternative.
"Jim Knopf" gibt es auch als Bilderbuchreihe, andere Klassiker sogar ausdifferenziert für ein Dutzend Lesestufen. Geht da viel von der ursprünglichen Geschichte verloren?
Schweikart: Das ist vor allem schlaues Marketing der Verlage. Bei Eltern haben die Figuren einen hohen Wiedererkennungswert, zum Teil auch aus der eigenen Lesebiografie. Es ist ja naheliegend: Gefallen dir die Figuren und die Geschichte im Erstlesebuch, dann wächst du damit rein ins eigentliche Buch. Ich denke, es ist nicht verkehrt, unterschiedliche Formate kennenzulernen und damit Vertrautheit zu schaffen. Mit den "Conni"-Büchern ist es ja gelungen, eine Figur durch die gesamte Kindheit und Jugend zu begleiten - vom Kita-Kind zum Teenie.
"Conni" und ihre Welt aus perfektem Kindergeburtstag und perfekter Aufgabenteilung zwischen den Eltern ist vielen Erwachsenen ein Dorn im Auge. Hat das noch was mit Kinderliteratur zu tun?
Schweikart: Man darf hier nicht Äpfel mit Birnen vergleichen. Die "Conni"-Bücher haben ihre Funktion und sind auf Themen hin geschrieben. Auch nicht jedes Buch für Erwachsene ist literarisch wertvoll. Solche Bücher eröffnen einen Sehnsuchtsraum und erfüllen den Wunsch nach einer perfekten Welt, die ein bisschen neben dem eigenen Leben steht. Das finde ich nicht verwerflich. Denn wer "Conni" liest, liest auch noch etwas anderes, denn er liest.
Zurück zu "Jim Knopf": Vielfach wurden dem Buch rassistische Darstellungen vorgeworfen. Was ist da dran?
Schweikart: Am Anfang, als das Paket mit dem Baby ausgepackt wird, sagt Herr Ärmel: "Das muss ein Neger sein." Das N-Wort taucht auf, und es gab auch Protest deswegen wie auch gegen die vermeintliche Fülle an Klischees in Bezug auf die Darstellung von Schwarzen, zuletzt im Zuge der aktuellen Rassismus-Debatte. Doch der Verlag hat sich entschieden, das Wort so stehenzulassen, weil es sich um Figurenrede handle und in die damalige Zeit passe, und der Autor könne auch nicht mehr wegen einer Änderung gefragt werden. Ich finde es legitim, es nicht zu verändern und damit Herrn Ärmel als bürokratisch-verstockte, beinahe reaktionäre Person zu charakterisieren.
Wir können und sollten Literatur nicht alle fünf Jahre auf ihre Aktualität in politisch korrekter Sprache prüfen.
Bücher sind Zeugen ihrer Zeit...
Schweikart: Genau. In "Jim Knopf" sind damit die 1960er-Jahre historisch korrekt dargestellt, mit dem damaligen auch sprachlichen Bewusstsein. Aber natürlich ist es Aufgabe der Mit- und Vorlesenden, das anzusprechen und zu erklären. Es ist eine knifflige Sache, wie ja auch die Diskussionen um "Pippi Langstrumpf" mit dem Wort "Negerkönig" zeigen oder um "Die kleine Hexe", wo von Verkleidung als "Zigeuner" und "Türke" die Rede ist. Man kann an vielen Stellen eingreifen, aber oft ist das übertrieben und nicht zielführend. Bei Kinderliteratur meint man oft, sie sei leichter veränderbar als Erwachsenenliteratur. Ende kann man viel unterstellen - aber nicht, dass er rassistisch wäre. Als das Paket geöffnet wird, sagt Lukas: "So eine Gemeinheit" - und meint, dass man Babys, egal welcher Hautfarbe, nicht in Kartons verschicken darf. Nichts anderes.