Ich erinnere mich noch gut an eine Party vor der Pandemie. Der dreißigste Geburtstag einer Freundin. Zig Leute in einer Wohnung, dicht gedrängt, der Boden klebt, halbvolle Teller und Gläser stapeln sich um die Spüle und immer wieder stolpert jemand in die Küche auf der Suche nach Chili con Carne, das seit drei Stunden leer ist. Das Übliche. Auf dem Balkon Gespräche mit Menschen, die man noch nie gesehen hat und nach dieser Nacht nie wieder sehen wird.

"Und was machst du so?", fragt mich Paula, die eigentlich anders heißt. Rauchend steht sie neben mir an der Balkontür. Vor einem halben Jahr hätte ich jetzt von meinem Job erzählt. Smalltalk. Freundlich, aber belanglos. Spätestens nach zwanzig Minuten wäre jemand von uns beiden aufs Klo, weil das noch immer der eleganteste Weg ist, ein dahinplätscherndes Gespräch freundlich zu beenden.

So hätte es laufen können. Aber so lief es nicht.

"Und was machst du so?", fragt mich Paula. Und ich antworte so, wie ich noch nie zuvor geantwortet habe. Bisher wissen nur meine engsten Freunde und Familienmitglieder von meinem Vorhaben, mitten im Berufsleben einen neuen Weg zu gehen. Nun aber scheint mir der Gedanke bereit für die Öffentlichkeit. Mein Testpublikum: Paula mit den selbstgedrehten Zigaretten. Ich versuche, meine Antwort möglichst lapidar klingen zu lassen. "Ich werde evangelischer Pfarrer." Stille. Paula beißt sich auf die Lippen. "Okay", sagt sie dann. "Schon eher außergewöhnlich, ich weiß", ergänze ich etwas verlegen und freue mich insgeheim auf ein Gespräch über Gott und die Welt.

"Ich kann Kirche nicht für voll nehmen", sagt Paula, verdreht die Augen und drückt ihre Zigarette aus. Dann geht sie entschlossen zurück in die Wohnung und verschwindet irgendwo zwischen den Partygästen. Ich glotze noch immer in die Richtung, wo nun niemand mehr steht, zwinkere, als wäre ich eben von einem Traum aufgewacht, und zwänge mich wie Paula zurück in die Wohnung. Ich will wissen: Was ist da los in ihrem Kopf? Was stößt sie ab? Und: Inwiefern bin ich nun Teil davon?

Ein Streitgespräch um Gott und die Welt

Paula steht beim leeren Chili-Topf. "Sorry, ich war zu direkt", sagt sie zu mir. "Aber ich kann Religionen einfach nicht ausstehen." Was folgt, ist ein langes Streitgespräch. Emotional, sehr sogar, aber respektvoll. Ein Clash der Weltanschauungen. Es geht ums Ganze, wenn es um Gott und die Welt geht. Immer mehr Leute werden auf uns aufmerksam. Es bildet sich ein regelrechter Kreis um uns, wie um einen spontanen Boxkampf.

Am Ende hat Paula mich nicht überzeugt. Und ich sie auch nicht. Unseren Gleichstand besiegeln wir mit einem Schnaps, grinsend. An diesem Abend werde ich noch von vielen Fremden angesprochen. Sie hätten da mal ne Frage. Das mit der Auferstehung – glaube ich das wirklich? Oder: Mein Vater liegt im Sterben – kann ich mal mit dir darüber reden? Es folgen tränenreiche Gespräche, heitere, energische, versöhnliche. Und irgendwann geht  die Sonne auf.

Schmerzhafter als jeder Streit ist Gleichgültigkeit

Warum erzähle ich diese Begebenheit so ausführlich? Ganz einfach: weil ich Paula danke für diesen – Pardon – Arschtritt. Am Reformationstag, der an das Befreiende im Glauben erinnert, mehr denn je. Und weil ich bei mir und bei vielen in der Kirche – gerade bei den Hauptamtlichen – einen Harmonie-Fetisch beobachte. Nach der Devise: Einfach lächeln, nicht stören, dann wird es schon nicht so schlimm werden. Ich befürchte: Erst damit wird es schlimm. Der Kirchenaustritt ist dann wie der Gang zum Klo auf der Party: Der Weg des geringsten Widerstands, um sich aus einer Konstellation zu befreien, die irgendwie nichts austrägt. Schmerzhafter als jeder Streit ist Gleichgültigkeit.

Fünfhundert Jahre nach der Reformation leben wir im Zeitalter der Kirchenaustritte. Und, ganz ehrlich: ich könnte mir keine bessere Zeit vorstellen, um Pfarrer oder überhaupt kirchlich aktiv zu werden. Wenn alles den Bach runtergeht, muss man schon mal nicht nebenherlaufen. Und es gibt viel auszuprobieren in den stürzenden Fluten: Kanus, Motorboote, Tretboote, Badehosen in allen Farben und Formen, Flamingo-Schwimmreifen (meine Wahl). Das Tempo ist rasant. Aber vielleicht bringt uns das schneller ans Ziel als ein Strudel, der sich selbst umkreist.

Es muss knallen, leuchten, blitzen

In meinem Vikariatsjahrgang sind wir vierzehn angehende Pfarrerinnen und Pfarrer. Vierzehn grundverschiedene Visionen von Kirche. "Was ist Ihre, Herr Brandl?" wurde ich mal gefragt. Und ich war unschlüssig. Ich habe irgendetwas Belangloses geantwortet, etwas, das niemandem wehtut. Wenn ich aber an die Party denke, an Paula, dann merke ich: So läuft das nicht.

Es muss knallen, leuchten, blitzen. Also: Zum Reformationstag ein Wunschkonzert!

Ich will eine heillos heruntergekommene Kirche. Und eine grotesk aufgebrezelte Kirche. Ich will eine linksgrünversiffte und eine bürgerlich-wertkonservative Kirche. Ich will Pfarrer*innen, die zu ihren Botox-Injektionen stehen, und ich will die, die ihr graues Haar bis zum Po wachsen lassen und bei denen man nie sicher sein kann, ob sie außer Talar und Birkenstock noch etwas tragen.

Genderstern und Lutherbibel

Ich will die penetranten Genderstern-Verfechter*innen, die die Gottesebenbildlichkeit transidenter Personen feiern, und die, die vor dem Zu-Bett-Gehen zum Nachtkästchen greifen und sanft über ihren Lutherbibel-Nachdruck von 1534 streichen, weil es seither schließlich nur noch bergab gehe mit der deutschen Sprache.

Ich will diejenigen in Protestcamps sehen, die Greta Thunberg kurzerhand zur Prophetin erklären und sie, ohne mit der Wimper zu zucken, in eine Reihe mit Propheten wie Amos oder Hosea stellen. Und ich will scharfe Einwände von denen hören, die ahnen, was passiert, wenn wir Menschen wie Götzen aufs Podest stellen.

Kirche: Alles, außer höfliches Mittelmaß

Ich will eine Kirche, bei der einem die Spucke wegbleibt. Die nicht weltfremd ist, sondern die Fragen der Zeit sieht, aber Antworten gibt, so unerhört, dass einem die Ohren schlackern. Ich will alles – außer höfliches Mittelmaß! Die Pietist*innen sollen Jesus feiern, aber warum nicht mal beim Christopher-Street-Day? Die mystisch Angehauchten sollen in Klöstern schweigen, aber warum nicht ein digitales Tagebuch führen und es anderen Suchenden zur Verfügung stellen?

Die Kulturprotestant*innen sollen die Künste pflegen, aber warum nicht mal, statt Weihnachtsoratorium Nr. 1257, die Schneiderkunst feiern und Kirche zum Catwalk umgestalten? Die Friedens- und Ökologiebewegten sollen für Gottes Schöpfung und gegen Braunkohleabbau auf die Straße gehen, aber warum nicht gemeinsam mit ihren Konfirmand*innen? Und so weiter!

Rotzfrech experimentieren und gelassen scheitern

Was es dazu meines Erachtens braucht: Mehr Vernetzung über Grenzen wie Gemeinden und Dekanate hinaus, am einfachsten digital. Eine Kultur des rotzfrechen Experimentierens und eine Kultur des gelassenen Scheiterns. Eine landeskirchliche Förderungspolitik, die leuchten lässt – auch wenn manche dann mal im Schatten stehen. Eine wirklich einladende Öffentlichkeitsarbeit. Räume und Zeiten, in denen Haupt- und Ehrenamtliche den Geist Gottes wahrnehmen können, um zu merken, was Gott alles an Gutem in sie gelegt hat. Und Lust. Ganz viel Lust.

Ich glaube: Niemand muss sich verdrehen oder verleugnen. Aber das, was wir sind und haben, auf den Scheffel stellen und leuchten lassen. Das ist gut biblisch. Und gut für die Welt. Mit diesem Selbstbewusstsein dürfen wir in die Post-Corona-Ära der Zwanziger starten.

Liebe Kirche: Das wird unser Jahrzehnt! Go, go, go!

 

Den #himmelwärts-Podcast von Alex Brandl findet ihr auch auf Apple PodcastsSpotify und Podcast.de. Regelmäßig erscheint dort eine neue Folge.