Schon im Vorfeld der Olympischen Winterspiele 2022 gab es scharfe Kritik am Austragungsort Peking. Ein Grund dafür ist der Umgang der Volksrepublik China mit den Uiguren. Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International und Human Rights Watch berichten, dass mindestens eine Million Uiguren in chinesischen Umerziehungslagern festgehalten werden. Mehrere westliche Regierungen haben das Vorgehen Pekings als Völkermord anerkannt – Deutschland bisher allerdings nicht.

Ümit Hamit ist Vorsitzender des Uyghur Freedom Forums. Er kam 1969 in der Hauptstadt des uigurischen Autonomiegebiets Ürümqi zur Welt und lebt seit 1995 in München. Im Sonntagsblatt-Gespräch erklärt er, worum es in dem Konflikt mit der chinesischen Regierung geht, was er sich von olympischen Sportler*innen wünscht und wie jeder etwas für die Uiguren tun kann. 

Herr Hamit, etwa eine Million Uiguren soll in chinesischen Umerziehungslagern festgehalten werden. Können Sie diese Zahl bestätigen?

Ümit Hamit: Wir schätzen, dass es viel mehr sind, etwa sieben bis acht Millionen Menschen. Die Chinesen behaupten auch, es gäbe nur rund elf Millionen Uiguren. Auch das stimmt nicht, wir schätzen mindestens doppelt so viele.

Was ist der Ursprung des Konflikts?

Hamit: Bis 1949 war Ostturkestan ein unabhängiges Land. Dann haben es die chinesischen Kommunisten unter Mao Zedong besetzt, mit der Hilfe von Stalin. Sie haben daraus die chinesische Provinz Xinjiang gemacht und versuchen nun, die Uiguren komplett aus den Geschichtsbüchern zu streichen. Millionen Menschen wurden getötet oder inhaftiert. 2019 haben amerikanische Medien geschätzt, dass über eine Million Uiguren umgebracht worden sind. Allein in meiner Familie waren es in den letzten zwei Jahren drei Personen. Und das betrifft 95 Prozent aller uigurischen Familien.

Ümit Hamit
Ümit Hamit ist Vorsitzender des Uyghur Freedom Forums.

"Die Uiguren sind ein großes Hindernis für Chinas gefährliche Pläne."

Woher kommt dieser Vernichtungswille?

Hamit: Die Chinesen sind Kolonialisten, sie haben unser Land besetzt. Das Land hat seine Vorteile, zum einen ist es riesengroß. Und dann gibt es unzählige Bodenschätze dort, Erdöl, Erdgas, Uran, Platin... Für China ist es das Tor, um sich weiter nach Westen auszudehnen, um letztlich die ganze Welt zu beherrschen. Die "Neue Seidenstraße" führt durch unser Land. Deshalb sind die Uiguren ein großes Hindernis für Chinas gefährliche Pläne und sie wollen uns vernichten. 

Täuscht der Eindruck, dass es in den letzten Jahren immer schlimmer geworden ist?

Hamit: 2014 haben die Chinesen angefangen, die Uiguren massenhaft zu verhaften, ohne jede Rücksichtnahme. Das hat auch damit zu tun, dass China wirtschaftlich gesehen in der Welt immer stärker wurde. Deshalb haben sie gedacht, es sei der richtige Zeitpunkt gekommen, weil niemand in der Welt mehr etwas dagegen sagen würde. Sie arbeiten mit Zwangssterilisierung und verbieten uns unsere Sprache, schon im Kindergarten dürfen die Kinder nur Chinesisch sprechen. Sie behaupten, wir seien kein eigenes Volk, sondern nur eine Variante der Chinesen, um so zu tun, als wäre das ein innenpolitisches Problem des chinesischen Staats.

Was empfinden Sie vor diesem Hintergrund, wenn Sie die Olympischen Winterspiele in Peking sehen?

Hamit: Ich finde es total absurd und schade, dass die westliche Demokratie so käuflich geworden ist. Die Olympischen Spiele sind eigentlich ein Friedenszeichen für die Welt. Und dann finden die in einer Diktatur statt, die gerade Millionen Menschen verhaftet und einen Völkermord begeht. Acht oder neun Länder haben inzwischen anerkannt, dass es sich um einen Völkermord handelt, das französische Parlament etwa, Amerika, England, die Niederlande.

"Das sind für mich keine Olympischen Spiele – das sind Genozid-Spiele."

Der IOC-Präsident Thomas Bach meinte bei der Eröffnungsfeier, man müsse Politik und Sport trennen. Hat er recht?

Hamit: Das ist beschämend. Millionen von Menschen werden umgebracht, es gibt Massenvergewaltigungen, Massensterilisierungen, Organe werden geraubt. Alles, was man sich vorstellen kann. Es ist doch klar, dass viele Extremisten dann sagen, die westliche Demokratie sei nur eine Spielerei. Das sind für mich keine Olympischen Spiele – das sind Genozid-Spiele. Uiguren, Tibeter, Mongolen und andere Minderheiten werden in Massen vernichtet.

Welche Reaktion würden Sie sich von den beteiligten Sportlerinnen und Sportlern wünschen?

Hamit: Für die ist es natürlich schade. Sie haben sich mindestens vier Jahre darauf vorbereitet. Die sollen auch ihren Sport betreiben, natürlich, aber sie könnten doch auch ein Zeichen setzen. Nicht gleich am Anfang, das wäre gefährlich, aber wenigstens am Ende. Damit die Chinesen sehen, dass die westlichen Demokratien wirklich ein Gewissen haben. Dass Menschen eine Würde haben.

"Das Ganze ist eine Prüfung für die europäische Demokratie: Ob sie sich so einer Macht widersetzen oder ob sie alles mitmachen."

Sie würden es also begrüßen, wenn die Sportler bei der Medaillenverleihung auf das Unrecht aufmerksam machen?

Hamit: Ja, man muss sich einfach äußern. Die Chinesen können ja nicht alle Sportler rausschmeißen. Das Ganze ist auch eine Prüfung für die europäische Demokratie: Ob sie sich so einer Macht widersetzen oder ob sie alles mitmachen. Jeder weiß von den Problemen der Uiguren. Aber seit zwei, drei Jahren gibt es keine scharfe Kritik mehr. Noch besser wäre es gewesen, die Spiele komplett zu boykottieren und nächstes Jahr einfach woanders die Spiele zu veranstalten. Das wäre ein richtiges Zeichen gewesen.

Warum, glauben Sie, passiert das nicht?

Hamit: Ich weiß es nicht. Sind unsere Politiker so dumm? Sind die Europäer so ängstlich? Ich verstehe das überhaupt nicht. Die Chinesen sagen ganz offen, dass sie Demokratie für ein Auslaufmodell halten. Aber der Westen tut nichts. Und das wird böse Folgen haben. Schon bald braucht China keine europäische oder amerikanische Technologie mehr. Dann werden keine westlichen Firmen mehr in China produzieren – sondern andersherum. Die chinesische Regierung sieht die Risse in der Europäischen Union, und das wird sie gnadenlos ausnutzen.

Wie schätzen Sie die Stimmung unter den Uiguren ein?

Hamit: Sie sind enttäuscht. Total enttäuscht, dass nach dem Zweiten Weltkrieg so eine große Massenvernichtung möglich ist, bei der alle zusehen und nur ein paar Artikel geschrieben werden. Die Chinesen können ungestört ihre Olympischen Spiele eröffnen und verleugnen, was sie den Uiguren alles antun. Und Europa sagt, naja, die Chinesen übertreiben es ein bisschen.

"Gerade Deutschland, das Land von "Nie wieder", sollte den Genozid anerkennen."

Was kann denn jede*r Einzelne tun? Wie können deutsche Bürgerinnen und Bürger den Uiguren helfen?

Hamit: Natürlich wäre es gut, wenn sie keine chinesischen Waren kaufen würden, aber das ist schwer. Viele müssen billigere Waren kaufen, und natürlich sind die sehr oft chinesisch. Sie sollten sich aber dafür einsetzen, dass auch Deutschland endlich die Verbrechen gegen die Uiguren als Völkermord anerkennt. Bisher bezeichnen sie es nur als Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Aber gerade Deutschland, das Land von "Nie wieder", sollte den Genozid anerkennen.