Eine Petition zu verfassen, ist eine Möglichkeit, um auf Missstände aufmerksam zu machen. Eine Demonstration eine weitere. Oder man kann eine Initiative gründen, die sich mit langem Atem für Verbesserungen einsetzen will. Das zumindest hat Xuan Ai Nhi Vu vor. Die 23-Jährige aus München ist gerade dabei, den bayernweiten Verein für "Care Leaver" zu gründen. Dabei handelt es sich um junge Menschen, die nach der Volljährigkeit die stationäre Jugendhilfe verlassen. Was oft mit riesigen Problemen verbunden ist. Denn viele scheitern.

Übergang vom Jugendheim in eigene Wohnung nahezu unmöglich

Dass man ganz schön viel um die Ohren hat, wenn man aus der Wohngruppe eines Kinder- und Jugendheims auszieht, weiß Xuan Ai Nhi Vu aus eigener Erfahrung. Die Sozialarbeiterin verließ die Jugendhilfe ein Jahr nach ihrem 18. Geburtstag. In München eine Wohnung zu finden, war äußerst schwierig. Auch finanziell hatte die junge Frau mit Problemen zu kämpfen - ganz alleine. "Im aktuellen System ist nicht ausreichend geregelt, wie der Übergang aus der Jugendhilfe gut funktionieren kann", sagt Xuan Ai Ni Vu, die sieben Jahre in einer Einrichtung der Kinder- und Jugendhilfe lebte.

Es gibt "Care Leaver", bei denen vom Tag des Auszug an alles schiefläuft. Sie schaffen es nicht, eine Bleibe zu finden. Die finanzielle Situation ist desaströs. Der Einstieg in eine Ausbildung oder einen Job klappt nicht. Xuan Ai Nhi Vu kennt einige "Care Leaver", die obdachlos wurden. Pia Bärbel Chojnacki, ihre Mitstreiterin im geplanten Verein, der bis Mai 2022 gegründet sein soll, weiß von einer jungen Frau, die zu ihrer Mutter zog, weil sie nichts anderes fand. Das Zusammenleben klappte aber nicht. Sie glitt in die Drogensucht ab:

"Seither macht sie einen Entzug nach dem anderen."

Verein soll "Care Leavern" helfen und politisch aktiv werden

Der neue Verein will nicht nur "Care Leavern" helfen, sondern auch politisch aktiv werden. Aktuell hänge es stark von Glück und Zufall ab, ob der Übergang aus der Jugendhilfe ins eigenständige Leben klappt, sagen die Initiatorinnen. Chojnacki zum Beispiel hatte Glück. Der Übergang gestaltete sich bei der heute 27-Jährigen sehr positiv. Dies allerdings hatte sie einzelnen engagierten Pädagoginnen zu verdanken. So erhielt Chojnacki beim Übergang eine Liste mit zahlreichen Tipps: "Bis dahin, dass es einen Hinweis gab, wo man in München seine Zähne kostenlos behandeln lassen kann."

Nur wenige "Care Leaver" können mit dem Übergang so rundum zufrieden sein. Dass es viel zu viele Schwierigkeiten gibt, ist auch Fachleuten bekannt. Die Vereinsgründung wird deswegen auch von Mechthild Wolff unterstützt. Die Professorin leitet an der Hochschule Landshut den Studiengang "Soziale Arbeit in der Kinder- und Jugendhilfe". Die Idee, dass sich einstige "Care Leaver" für bessere Strukturen einsetzen, findet sie sehr gut: "'Care Leaver' wissen, was in der Jugendhilfe anders laufen muss." Sie seien wichtige Ratgeber und Mitgestalter der Kinder- und Jugendhilfe:

Einsatz der Regierung für "Care Leaver"

Dass die Lage nicht gut ist, hat der Gesetzgeber erkannt. Im Kinder- und Jugendstärkungsgesetz, das seit 10. Juni 2021 in Kraft ist, werden auch Rechte der "Care Leaver" gestärkt. Die hätten zum Beispiel bewirkt, dass sie künftig einen Anspruch auf Selbstorganisationen haben, erläutert Wolff. Eben dies ermutigte Xuan Ai Nhi Vu und Pia Bärbel Chojnacki, ihre Initiative auf den Weg zu bringen. Inzwischen konnten sie mehr als ein Dutzend Unterstützer gewinnen. Ist der Verein offiziell gegründet, wird der erste Schritt die Suche nach Räumen sein, erläutern die beiden Initiatorinnen.

Zukünftiges Angebot des neuen Vereins

Xuan Ai Nhi Vu möchte Beratungsstunden von ehemaligen "Care Leavern" für "Care Leaver" anbieten. "Durch eine Anlaufstelle sind wir auch im Gemeinwesen präsent", sagt sie. Diese Präsenz ist ihr sehr wichtig, da die Gruppe der "Care Leaver" den meisten Bürgern noch völlig unbekannt ist. Dabei ist sie groß. Deutschlandweit umfasst sie laut Bundesfamilienministerium 31.000 junge Menschen. Wie viele Jugendliche in Bayern die stationäre Jugendhilfe in den letzten fünf Jahren verließen, ist nicht bekannt. Laut Bayerischem Sozialministerium werden diese Daten nicht zentral erhoben.

Der neue Verein will helfen, individuelle Lösungen für die Betroffenen zu entwickeln. Damit möchte er ein Stück weit das leisten, was sonst Mütter und Väter tun, wenn ihre Kinder volljährig werden. Viele "Care Leaver" können nicht auf Eltern zurückgreifen. Oder sie haben Mütter und Väter, die in prekären Verhältnissen leben. Oftmals sei die Beziehung zwischen dem "Care Leaver" und seinen Eltern sehr ambivalent, bestätigt Pia Bärbel Chojnacki. Auch sie erhielt so gut wie keine elterliche Unterstützung, als sie die stationäre Jugendhilfe verlassen musste, erinnert sie sich.

Dabei sind gute Unterstützungsmöglichkeiten gerade für "Care Leaver" laut Sozialarbeiterin Xuan Ai Nhi Vu besonders wichtig - eben weil es sich bei "Care Leavern" oft nicht um robuste, resiliente junge Leute handelt. Viele "Care Leaver" haben durch ihr Elternhaus einen seelischen Knacks abbekommen. Einige wurden geschlagen. Andere missbraucht. Wieder andere seelisch misshandelt. "Wegen dieser schwierigen Umstände verhalten sich 'Care Leaver' oft nicht der Norm entsprechend", sagt Xuan Ai Nhi Vu. Aufklärungsarbeit zu leisten, sei ein weiteres Ziel des künftigen Vereins.