Zu Nachbarn, die die Hunde auf sie hetzten, ist die kleine Olga nicht mehr zum Betteln gegangen. "Aber andere waren gut und haben gegeben", erzählt die alte Dame. Sie sitzt mit blassem Gesicht in einem bunten Kleid in ihrer Nürnberger Mietwohnung. Neben dem Sofa ihr Atemgerät, an den Wänden ungezählte gerahmte Familienfotos. Olga Kutscher, damals sechs Jahre alt, und ihre ganze Familie mussten 1941 nach dem sogenannten Stalindekret die wolgadeutsche Heimat verlassen.

Erfahrungen Kutschers aus der Zeit der Deportation

Die Älteren mussten über 50 Kilometer gehen, Kinder und Mütter wurden in Viehwaggons verfrachtet, wie sie sich erinnert. Nur einige Kleidungsstücke durften sie nach Sibirien mitnehmen. Und die hätten sie schon bald gegen etwas Essbares eingetauscht. "Zwischen 1941 und 1956 haben wir uns nicht ein einziges Mal sattgegessen", schildert sie ihre Jugend. Es war die Zeit, in der sie betteln gehen musste.

Man habe in der sogenannten Sondersiedlung in Erdlöchern gehaust, auf die sie nach und nach Hütten gebaut hätten. Für schwere Arbeit im Bergbau, bei der Ernte oder in einer Fleischerei hätten sie und ihre Eltern keinen Lohn gesehen. Den Wohnort zu verlassen war verboten, Deutsch durfte unter Strafandrohung nicht gesprochen werden.

Warum mussten die Menschen ihre Heimat verlassen?

Etwa 900.000 Menschen waren im Herbst 1941 von der Deportation aus dem europäischen Teil der UdSSR, aus Georgien, Armenien und Aserbaidschan und der anschließender Zwangsarbeit betroffen. Die sowjetische Regierung unter Josef Stalin befürchtete eine Kollaboration der Russlanddeutschen mit der deutschen Wehrmacht, nachdem Nazideutschland im Juni die Sowjetunion überfallen hatte.

Rund 350.000 Menschen kamen in Arbeitslager, mindestens 150.000 Menschen verloren ihr Leben, informiert das Museum für russlanddeutsche Kulturgeschichte im westfälischen Detmold. Die Bundeszentrale für politische Bildung hat in einem umfangreichen Dossier die Geschichte der Russlanddeutschen dargestellt.

Die Erwachsenen mussten in Bergwerken, bei Waldrodungen, in der Rüstungsindustrie und im Schienenbau schuften. Ihre Kinder dienten als Melker und Viehhirten. Aufgehoben wurde die Verbannung, die ursprünglich als "ewig" ausgerufen worden war, im Jahr 1956, als Nikita Chruschtschow die Entstalinisierungsphase einleitete.

Die Geschichte eines Russlanddeutschen in Deutschland

Die Vorfahren der Russlanddeutschen waren ab dem 18. Jahrhundert als Siedler nach Russland gekommen. Das sogenannte Kolonistenprivileg versprach ihnen eine politische, wirtschaftliche und kulturelle Sonderstellung. Aber schon vor der Oktoberrevolution von 1917 begann die Unterdrückung der Deutschen.

David Löwen, Lehrer in München, hat sich in die Geschichte seiner Familie eingelesen, die einst ein Gut in einer Kolonie der heutigen Ukraine hatte, wie er erzählt. Ein Familienfoto vom Beginn des 20. Jahrhundert zeigt ein stolzes Elternpaar mit neun Kindern. Ganz rechts außen steht David Löwens Großvater, Johann Nickel.

Er wird Ende der 1920er Jahre von der Familie beauftragt, das sozialisierte Gut wieder zurückzugewinnen, während die restliche Familie nach Deutschland geht oder nach Kanada auswandert. Wegen Briefen, die er verbotenerweise an seine Verlobte in deutscher Sprache schreibt, wird dann der junge Mann 1935 zur Zwangsarbeit verurteilt, so erzählt es Löwen. 22 Jahre habe er verbüßt, bis er 1956 freigekommen sei.

Da habe der große Mann 50 Kilogramm gewogen, sagt der Enkel. Als bekennender Christ habe er sich nicht dem Hass hingeben können, wird aus den Lebenserinnerungen deutlich, die Nickel aufgeschrieben hat. Löwen bewahrt die mit ordentlichen, gleichmäßigen Buchstaben geschriebene Kladde seines Großvaters.

"Die meisten Menschen in der Bundesrepublik denken beim Wort Russlanddeutscher, das ist ein Russe, der jetzt in Deutschland lebt", stellt David Löwen fest. Über eine Minderheit, der in Deutschland rund 2,5 Millionen Menschen angehörten, wüssten selbst die Spitzenpolitiker nichts, kritisiert er.

1990 ist Löwen mit den Großeltern, den Eltern und acht Geschwistern als Aussiedler aus Miass, einer Bergbaustadt im Uralgebirge, in die Nähe von Bielefeld gekommen. Er habe "keine richtige Heimat", stellt er fest. Obwohl er russischsprachig aufgewachsen sei, habe er - gerade wenn die Älteren Plattdeutsch zu sprechen begannen - im Unterbewusstsein als Kind gespürt: "Ich gehöre hier nicht hin." Und in Deutschland wiederum seien die Aussiedler "die Russen" gewesen.

Viele Russlanddeutsche kämpfen noch heute mit generationsübergreifenden Traumata

"Die Wunden, die der deutschen Bevölkerung in der Sowjetunion über Jahrzehnte zugefügt wurden, konnten oft nicht verheilen, und zeichnen bis heute als generationsübergreifende Traumata deutliche Spuren in viele Familien", sagt die Slawistin und Nürnberger Aussiedlerseelsorgerin Sabine Arnold. Viele der Aussiedler, die sie betreut, hätten ihr erzählt, wie auch sie in der Sowjetunion als "Fritzy" oder "Faschisty" oft von den Lehrern verunglimpft worden seien. Auch mit Behörden-Gängelung hätten Menschen rechnen müssen, die einen Pass gehabt hätten, aus dem die deutsche Abstammung noch zu ersehen gewesen sei.

Um an die Repressalien und die Zwangsumsiedlung zu erinnern, bereitet Arnold in Nürnberg für den Volkstrauertag (14. November) einen Gottesdienst zum Gedenken vor. "Leben mit Rissen und Brüchen" ist er überschrieben.

Auch Olga Kutscher spürt diese Brüche. Sie ist 2003 als Spätaussiedlerin nach Franken gekommen. "Nürnberg ist meine zweite Heimat", sagt die 86-Jährige. "In die erste Heimat, ich tät gerne hin, aber ich schaff's nicht mehr".

Das Stichwort: Russlanddeutsche

Unter Zarin Katharina II. begann mit dem "Kolonistenbrief" von 1763 die Anwerbung von Siedlern nach Russland. Die Kolonisten kamen vor allem aus deutschen Gebieten. Sie wurden im Wolga- und Schwarzmeergebiet angesiedelt. Doch die deutsche Minderheit wurde mit dem Beginn des Ersten Weltkrieges zunehmend unterdrückt.

Ende des 19. Jahrhunderts mit dem Erstarken nationalistischer Strömungen in Europa und nach der Gründung des Deutschen Reiches 1871 wandten sich russische Nationalisten gegen die weitere Ausbreitung des "Deutschtums" in Russland. Privilegien wurden nach und nach aufgehoben, darunter auch die Freistellung vom Militärdienst.

Es kam zu einer ersten deutschen Auswanderungswelle, vor allem von deutschen Mennoniten, die nach Nord- und Südamerika gingen. 1891 wurde Russisch zum Pflichtfach an allen deutschen Schulen. Noch während des Ersten Weltkriegs wurden 1915 etwa 200.000 Deutsche aus dem Wolhynien-Gebiet nach Sibirien deportiert. In Moskau kam es zeitgleich zu ersten Pogromen gegen die deutschstämmige Bevölkerung.

Mit der Oktoberrevolution 1917 und dem Beginn der Stalin-Herrschaft 1924 begann die systematische staatliche Verfolgung der Deutschen in der Sowjetunion. Der stalinistischen Terrorwelle 1937/38 fielen Tausende von Deutschen als sogenannte "Volksfeinde" zum Opfer. Nach dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion reagierte der Oberste Sowjet mit einem Umsiedlungsbefehl.

Ab September 1941 wurden ganze Familien - meist getrennt von den Männern - in Güterzügen nach Osten verfrachtet, wo sie oft tagelang zu Fuß bis zu ihren Bestimmungsorten gehen. Viele überlebten die Transporte nicht, die in den hohen Norden Russlands, nach Sibirien, nach Kasachstan oder Zentralasien führten. Dort wurden die arbeitsfähigen Erwachsenen zur Zwangsarbeit abkommandiert.

Alte und Kinder waren in einem System von "Sondersiedlungen" untergebracht. Sie lebten anfangs in Erdhöhlen, die oberirdisch mit Holzstämmen, Zweigen und Moos abgedeckt waren. Bis 1956 lebten nach offiziellen Zahlen immer noch mehr als eine Million Deutsche in diesen Sondersiedlungen. Nach 1956 folgten in den 1960er und 1970er Jahren allmählich politische Lockerungen wie die Teilrehabilitierung vom Vorwurf der kollektiven Kollaboration während des Zweiten Weltkriegs. Ab den 90ern Jahren kamen Russlanddeutsche als Spätaussiedler nach Deutschland.