Jedes Jahr startet die Evangelische Kirche in Deutschland eine Fastenaktion. Das Motto aus dem Jahr 2011 wollte  Menschen dazu bewegen, eigene Fehler einzugestehen und Schwächen offenzulegen. Wie schwierig es ist, ehrlich zu sein, weiß auch der Philosoph Rainer Erlinger. In seiner wöchentlichen Kolumne für das Magazin der "Süddeutschen Zeitung" antwortet er auf "Gewissensfragen" der Leserinnen und Leser. Im Interview erklärt Erlinger den Unterschied zwischen Moral und Werten - und warum Schwarzfahren so schlimm ist wie Steuerhinterziehung.

 

Herr Erlinger, sind Sie ein Moralapostel?

Erlinger: Ich denke nicht. Ein Moralapostel läuft mit erhobenem Zeigefinger herum und sagt ungefragt, wie sich die Menschen verhalten müssen, womöglich noch ohne selbst danach zu leben. Ich bin jemand, der über Moral nachdenkt und schreibt.

Was ist denn Moral?

Erlinger: Für mich ist Moral die Summe der Grundsätze, die wir für unser Zusammenleben brauchen. Es gibt wichtige Prinzipien, die wir achten müssen. Diese haben einen regelhaften Charakter, definieren aber nicht, was genau ich tun darf oder nicht. Bei exakten Regeln, die etwas vorschreiben, kommt es immer zu Situationen, in denen die Regeln nicht mehr passen. Dann sucht man sich einen Umweg. Bei Prinzipien gibt es keinen Umweg.

Spielt Moral heute überhaupt noch eine Rolle?

Erlinger: Wir leben in einer moralischeren Zeit als früher, weil wir weniger Regeln haben. Insofern müssen wir mehr über unsere Entscheidungen nachdenken als früher. Außerdem hat sich das öffentliche Bewusstsein verändert. Bestechungsgelder von Unternehmen wurden bis in die 1990er Jahre vom Finanzamt als "nützliche Aufwendungen im Geschäftsverkehr" anerkannt und konnten von der Steuer abgesetzt werden. Heutzutage kommt ein Weltkonzern wie Siemens in erhebliche Bedrängnis, wenn sich herausstellt, dass Bestechungsgelder gezahlt wurden. Da ist ein Wandel eingetreten.

Was hat sich verändert?

Erlinger: Das Verständnis von Grundwerten oder Grundprinzipien hat sich verschoben. Gewalt in der Familie zum Beispiel wird geächtet. Wir begreifen den Menschen als individuelle Person, mit der nicht alles gemacht werden darf. Hier wird einer der Kernpunkt der Moral deutlich, die schon der Moralphilosoph Immanuel Kant geäußert hat: Der Mensch hat einen Wert an sich.

Wie ist das mit den Zehn Geboten?

Erlinger: Die Zehn Gebote enthalten Prinzipien und Regeln. Das Gebot "Du sollst nicht töten" enthält den Grundwert: Das Leben ist wertvoll und muss geschützt werden. Allerdings kommt man mit dem Gebot schnell in eine Problematik: Wie ist das mit den Tieren, die wir töten, um sie zu essen? Insofern ist es besser, darüber nachzudenken, was hinter diesem Gebot steht – nämlich die Achtung vor dem Wert des Lebens.

Zu ihrem Buch mit dem Titel "Moral: Wie man richtig gut lebt". Was hat Moral mit unserem Alltag zu tun?

Erlinger: Viele Menschen denken, Moral sei nur etwas für die großen Fragen der Gesellschaft – etwa die Diskussion über Stammzellen oder über den "gerechten" Krieg.

Ich bin davon überzeugt, dass wir die Moral brauchen für das tägliche Leben.

Zum Beispiel Schwarzfahren: Da geht es um ein zentrales Thema, nämlich die Frage, wie sehr ich mich auf Kosten der Allgemeinheit bereichern darf. Natürlich ist beim Schwarzfahren der Schaden auf den ersten Blick nicht sichtbar, denn die U-Bahn würde auch ohne mich fahren. Aber es entsteht ein Schaden, weil ich mich bereichere, indem ich meinen Beitrag zum Gemeingut nicht leiste. Deshalb ist Schwarzfahren mit Steuerhinterziehung zu vergleichen.

Es geht also um Verantwortung.

Erlinger: Verantwortung ist ein schillernder und vielgestaltiger Begriff. Eltern sind verantwortlich für ihre Kinder, wir alle sind verantwortlich für unsere Zukunft. Mir ist wichtig zu vermitteln, dass jeder die Verantwortung trägt für das eigene Handeln. Wir dürfen uns nicht dahinter verstecken, dass "die da oben" Steuern hinterziehen oder unmoralisch handeln. Verantwortlich handeln hat auch mit Vorbildfunktion zu tun.

Können Sie ein Beispiel geben?

Erlinger: Pünktlichkeit. Der moralische Aspekt von Pünktlichkeit ist nicht, dem Kalender oder der Uhr zu dienen, sondern dem Miteinander. Wenn ich unpünktlich bin, zeige ich meinem Gegenüber, dass ich meine Zeit für wertvoller erachte als seine eigene. Damit komme ich wieder an den Kern der Moral, nämlich das Thema Achtsamkeit gegenüber anderen Menschen. Dabei geht es nicht um die Regel "Du darfst keine Minute zu spät kommen". Wenn ich jemanden zu Hause besuche, sind zehn, womöglich sogar 30 Minuten Verspätung nicht schlimm. Wenn ich aber im Winter an einer zugigen Ecke verabredet bin, dann sind zwei Minuten Verspätung sehr lang.

Die Fastenaktion der evangelischen Kirche 2011 hat das Motto "Ich war's! Sieben Wochen ohne Ausreden". Wie ist Moral mit Ausreden beziehungsweise Ehrlichkeit in Verbindung zu bringen?

Erlinger: Da kann es schnell zum Konflikt kommen: Gegenüber dem anderen Menschen, den ich durch meine Ausreden belüge und ihn in gewisser Hinsicht sogar gering achte, weil ich wieder meine Bequemlichkeit höher bewerte. Man muss aber umgekehrt auch überlegen, ob eine Ausrede nicht auch einen Wert haben kann, weil sie hilft den Anderen nicht unnötig zu verletzen. Aber auch mir selbst gegenüber, wenn ich mich selbst mit meinen Ausreden belüge. Wobei man streiten könnte, ob die Selbsttäuschung eine Frage der Moral ist oder eher der Psychologie.

Buchtipp

Rainer Erlinger: Moral - Wie man richtig gut lebt.

Fischer Verlag, Frankfurt 2011, ISBN 978-3100170217, Preis: 19.95 Euro

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