Me and Bobby McGee

Ich sitze im Auto, höre BR1, die Ohrwürmer der 60er und 70er. Und a kommt es: Die ersten Hamonien der Westerngitarre, dann diese einzigartige Stimme von Janis Joplin dazu: Sie singt "me and Bobby Mc Gee". Den Text kenne ich nur noch in Bruchstücken auswendig, aber ganz und gar unvergessen bleibt diese Liedzeile: "Freedom is just another word for nothing left to loose". Freiheit heißt, dass man nichts mehr zu verlieren hat.

Ich erinnere mich: Damals war ich kurz vor dem Abitur. Es war eine schöne Zeit, vor allem wegen unserer Clique. Wir waren zu sechst, manchmal zu zehnt. Und wir trafen uns regelmäßig in einer kleinen alternativen Tee- und Weinstube in der Altstadt. -Ein enger Gewölberaum mit wild zusammengewürfelten Möbeln und einer provisorischen Theke, mehr war es nicht. Die Luft -rauchgeschwängert und wir haben stundenlang diskutiert über Gott und die Welt. Über den Sinn. Über Politik. Über unsere Zukunft. Und wir fühlten uns cool und abgeklärt und engagiert. Und wir waren sicher, bald würden wir die große Freiheit erleben: Keine Schule mehr, keine Klausuren, eine eigene Bude, tun und lassen, was man will, endlich frei! Und zu diesem Lebensgefühl gehörte: "Me and Bobby McGee"!

Janis Joplin beschreibt in ihrem Lied, wie sie mit Bobby in Amerika unterwegs ist, per Anhalter und chronisch pleite. Und wie sie mit der Mundharmonika Blues spielt und er dazu singt. Irgendwann hat Bobby das Umherziehen satt und will bleiben. Und sie lässt ihn zurück und zieht alleine weiter und denkt doch wehmütig an Bobby McGee zurück: "Ich würde so ziemlich meine gesamte Zukunft dafür geben, ihn nochmal an mir zu spüren" singt sie am Ende des Liedes. Diese Sehnsucht, diese Trauer - das ist wohl der Preis der Freiheit. In diesem rebellisch-traurigen Lied singt die Sängerin auch von sich selbst. Denn Leute, die Janis Joplin gekannt haben, haben von ihrer vergeblichen Suche nach wahrer Liebe, nach Zuneigung und Geborgenheit geschrieben.  Sie beschreiben die Sängerin als eine innerlich zerrissene Frau, die in ihrer Musik zugleich ihren Stolz und ihre Verzweiflung ausdrückt. Mit 17 ist Janis Joplin von Zuhause ausgezogen, war ständig unterwegs, wechselte die Bands und Manager und die Menschen an ihrer Seite. 1970 starb sie an einer Überdosis Heroin. Gerademal 27 Jahre war sie da alt.

Als wir in unserer Clique Janis Joplin hörten, war die Sängerin schon fast ein Jahrzehnt tot. Aber das bitter-süße Gefühl von Unabhängigkeit, das Gefühl, dass Freiheit damit zu tun hat, auch etwas loszulassen: Gewohnheiten, vielleicht Freunde, nicht an Orte und Konventionen gebunden zu sein, war mir damals völlig einsichtig.

Freiheit und Gesetz

Für mich war das Lied von Janis Joplin im Autoradio eine Wiederentdeckung. Lange hatte ich es nicht mehr gehört und jetzt gings mir nicht mehr aus dem Kopf. Überhaupt das Thema Freiheit: Nein, die große Freiheit kam nach dem Abitur natürlich nicht. Studium. Nebenher arbeiten. Auf einmal musste man sich selbst um eine Studentenbude, Mietvertrag, Versicherungen und all die Sachen kümmern. Examen. Dann der Beruf. Partnerschaft, Familie. Nein, die große Freiheit kommt nach der Schulzeit nicht. Man ist an viele Menschen und an viele Dinge gebunden. Und so eine Freiheit, wie sie Janis Joplin beschreibt, will ich gar nicht. Ich will nicht an einen Punkt kommen, an dem ich nichts mehr zu verlieren habe. Und doch bleibt mir die Sehnsucht nach Freiheit. Die richtige Balance zwischen Bindung und Freiheit im Leben, das wärs.

Ums richtige Verhältnis zwischen Bindung und Freiheit, nämlich Bindung an Christus und Freiheit vom jüdischen Gesetz, ging es auch dem Apostel Paulus. Das war seine Herzensangelegenheit, sein Lebensthema. Immer wieder appelliert er leidenschaftlich an seine Mitchristen: Lasst euch nicht von den religiösen Gesetzen der jüdischen Religion gängeln. Unterwerft euch nicht irgendwelcher Speisevorschriften und anderer Gesetze, die für euch keinen Sinn ergeben!. Die gelten für euch als Christen nicht mehr, so Paulus. Wie ein roter Faden zieht sich das Gegensatzpaar - hier das Joch des Gesetzes, dort die Freiheit des Evangeliums - durch seine Briefe und sein Leben. Es ist ein sehnsuchtsvolles Aufbegehren für mehr Freiheit. Da hört er zum Beispiel, dass in seiner Gemeinde in der römischen Provinz Galatien auf der Hochebene um Ankara judenchristliche Missionare unterwegs sind. Sie hätten sich, so schreibt er, eingeschlichen, um " auszukundschaften unsere Freiheit, die wir in Christus Jesus haben, und uns so zu knechten" (Gal.2,4). Diese "falschen Brüder", wie er sie nennt, fordern von den männlichen Gemeindemitgliedern, die zuvor keiner Religion angehörten, dass sie sich beschneiden lassen sollten. So ist es in der jüdischen Religion vorgesehen. Paulus erhebt in seinem Galaterbrief Einspruch: Ihr seid Christen und damit fallt ihr nicht unter das jüdische Gesetz. Oder anders gesagt: Durch Jesus Christus seid ihr nun frei von dem Gesetz. Es gilt für euch nicht mehr. Lasst euch diese Freiheit nicht nehmen.

Und er begründet seinen Freiheitsappell:

"Doch weil wir wissen, dass der Mensch durch Werke des Gesetzes nicht gerecht wird, sondern durch den Glauben an Jesus Christus, sind auch wir zum Glauben an Christus Jesus gekommen, damit wir gerecht werden durch den Glauben an Christus und nicht durch Werke des Gesetzes; denn durch des Gesetzes Werke wird kein Mensch gerecht." (Gal.2, 16)

Paulus unterscheidet also zwischen notwendiger Bindung, nämlich der an Christus, und sinnloser Bindung, die uns unserer Freiheit beraubt, nämlich der Bindung an das religiöse Gesetz, eben der Beschneidung.

Das ist das Lebensthema des Paulus: Lasst euch eurer Freiheit nicht berauben für irgendwelche Bräuche und Gesetze.

Was gilt?

Freiheit und Bindung. Das ist ein Lebensthema: Es gibt so viele Ansprüche, so viele Regeln, so viel geschriebenes und Ungeschriebenes, was man denn tun soll, was sich denn so gehört und was gar nicht geht. Sinnvolles und Unsinniges. Nur: Wie das unterscheiden? Wie herausfinden, was denn eigentlich gilt an Ansprüchen. Welche Normen, welche Werte zählen, und welche nehmen einem nur die Freiheit und manchmal die Luft zum Atmen. Und geben für mich keinen Sinn? Ich denke an ein Ehepaar, das mir von seinen Kindern erzählt. Die Tochter, jetzt 30, und der Sohn 25 Jahre alt, waren nach dem Abitur jeweils auf Reisen. "Work and travel". Während die ältere Tochter danach genau wusste, was sie studieren will, brauchte der Sohn noch lange, bis er sich entscheiden konnte. Er studiert noch immer, ein wenig lust- und planloslos, wie die Eltern meinen. Hat noch keine Vorstellung, was denn nach dem Studium kommen soll. Sie hat inzwischen einen tolle Stelle, aber arbeitet nur halbtags, weil sie auch noch Zeit für sich und ihre Hobbies braucht. Beide sind noch solo, fügt die Mutter hinzu, und dann: "Ich war gerade mal 26 Jahre alt, als wir unsere Familie gründeten". Und während die Eltern so erzählen, hört und spürt man es deutlich: Sie lieben ihre Kinder, aber so ganz verstehen sie nicht, wie die ihr Leben leben. Es ist so ganz anders als in der Elterngeneration, in der noch galt: schnell fertig werden, Karriere machen, Familie gründen, sich etablieren.

Ja, denke ich mir. Ist wahrscheinlich nicht immer so einfach für die Eltern, bei den Kindern einen so anderen Lebensentwurf zu erleben. Und umgekehrt: Wahrscheinlich ist es auch für die Kinder nicht leicht, mit der Erwartungshaltung der Eltern umzugehen. Und wer mag denn beurteilen, wer Recht hat: Sind die Vorstellungen der Eltern nun richtig: Schnell studieren, Erfolg im Beruf ist wichtig und nicht zu spät eine Familie zu gründen? Oder die der Kinder: Ich lasse mich nicht hetzen und fremdbestimmen. Es ist mein Leben und ich leben nur einmal? Was stimmt? Und es ist ja nicht so, als wären die Kinder nicht auch Gesetzen unterworfen. Den Gesetzen ihrer Generation: Sie müssen ständig erreichbar sein, dauernd kommunizieren über facebook und Co., Image pflegen, schön sein… Für mich ist es immer wieder eines Nachdenkens wert: Welche Werte und Normen sind sinnvoll, welche aber auch nur einfach da, weil nicht hinterfragt und nur gewohnt? Ist dann die Freiheit nicht wichtiger?

Das barmherzige Gesetz

In den biblischen Erzählungen von Jesus fällt auf, mit welcher enormen inneren Freiheit er mit religiösen Gesetzen und Normen umgeht. Er hat offenbar einen sicheren inneren Kompass, wie man sich verhalten soll und wovon man sich frei machen kann. Sein innerer Kompass ist seine Nähe zu Gott, und so kann er  selbstverständlich und selbstbewusst alte Zöpfe abschneiden.
Einerseits verschärft er manche Normen. Zum Beispiel das Gebot: "Du sollst nicht töten!" Für Jesus beginnt man einen Menschen schon dann zu töten, wenn man ihn beschimpft, verleumdet, psychisch verletzt. Auch das kann Menschen töten. Und dann setzt er hinzu: Bevor du in den Tempel gehst um zu beten und Gott nahe zu kommen, schau erst einmal, dass du deine Beziehung zu deinen Mitmenschen in Ordnung gebracht hast. Und ähnlich kompromisslos denkt er auch über die Ehescheidung, das Schwören und die Nächstenliebe. Kompromisslos radikal ist Jesus im Wortsinn. Er geht nämlich an die Wurzel eines Gebots und fragt: Was meint Gott mit diesem Gebot. Wie soll es das menschliche Miteinander besser und barmherziger gestalten? Und er sagt: Macht es euch nicht so einfach! Denkt nicht, ihr seid auf der sicheren Seite nur weil ihr den Buchstaben eines Gesetzes folgt! Und andrerseits sagt er: Macht es euch nicht so schwer mit manchen Gesetzen, indem ihr meint, ihr müsst es buchstabengetreu umsetzen. Nehmt euch die Freiheit. Fragt nach dem Sinn des Gebotes in der jeweiligen Situation – und wenn es sinnlos ist, lasst es sein. Wie souverän, wie Gott gegründet dieser Jesus doch ist!

Einmal wird von Jesus und seinen Jünger erzählt, wie sie an einem Sabbat durch ein Weizenfeld wandern. Die Jünger sind hungrig. Sie rupfen die Ähren und klauben die Körner aus, um sie dann zu essen. Die gesetzestreuen Pharisäer sehen das und konfrontieren Jesus mit ihrer Anklage: "Siehe, deine Jünger tun, was am Sabbat nicht erlaubt ist" (Mt.12,2). Aus ihrer Sicht haben die Gesetzeslehrer wohl recht: Die Ähren zu pflücken ist eine Art von Erntetätigkeit und die ist nach dem jüdischen Religionsgesetz am Sabbat verboten. Jesus diskutiert nicht, ob man bei dem Rupfen und Zerlegen der paar Ähren schon von einer Ernte reden kann. Nein, er stellt das Gesetz an sich in Frage. Er sagt: Den Hunger zu stillen ist in diesem Moment wichtiger als ein Gesetz zu beachten allein um des Gesetzes willen. Schließlich ist die Grundintention des Sabbatgesetzes nicht eine sinnlose Gängelung der Menschen, sondern es dient dem Schutz und dem Wohl des Menschen. Das Gesetz ist um des Menschen willen da, und nicht umgekehrt. Wo es schadet, wo es Wohlergehen und Freiheit ohne Notwendigkeit beschneidet, da ist es ungültig. Und er erinnert an ein altes Prophetenwort: "Barmherzigkeit will ich und nicht Opfer" (Hosea 6,6).

Im Spiegel der Freiheit des anderen

Sind die Pharisäer, die Jesus ein ums andere Mal angreifen neidisch? Da nimmt sich dieser Jesus eine Freiheit, die niemandem etwas wegnimmt, die sie sich selbst aber niemals zugestehen würden. Ich höre förmlich ihre Empörung: "Da könnte ja jeder kommen…, sagen sie vielleicht, oder: Wo kommen wir denn da hin, wenn das jede tut?"

Ich bin so frei – diese Haltung des einen erzeugt bei manchen Menschen einen Gegenhaltung der Empörung. Die Freiheit der einen löst in einem anderen Neid oder Angst aus vor der oft gar nicht bewussten eigenen Sehnsucht nach Freiheit.

Eine andere biblische Geschichte deutet für mich darauf hin. Jesus erzählt, wie ein Pharisäer im Tempel betet:

"Der Pharisäer stand und betete bei sich selbst so: Ich danke dir Gott, dass ich nicht bin wie die anderen Leute, Räuber, Ungerechte, Ehebrecher (…). Ich faste zweimal in der Woche und gebe den Zehnten von allem, was ich einnehme." (Lk.18,11f)

Kein Wunder, dass die Pharisäer bis heute sprichwörtlich für Heuchelei und Scheinheiligkeit stehen. Aber wie wäre es denn, hinter diesem überheblichen Beter den Menschen zu sehen? Ist der wirklich so von sich überzeugt? Oft erlebe ich Menschen, die arrogant und selbstgewiss wirken und bei näherem Kennenlernen unsicher sind, bedürftig nach Liebe und Anerkennung. Was geht in einem Menschen vor, der so überheblich betet? Spricht hier nicht ein großes Fragezeichen: Ist es denn wirklich gut, wie ich mich an die Gesetze halte?

Wieviel Freiheit könnte der Pharisäer gewinnen und sich gönnen, wenn er Gott anders begreifen könnte! Gott liebt die Menschen, weil sie wie seine Kinder sind. Er kennt ihre Schwächen, ihre Sehnsüchte, ihre Versuche Gutes zu tun und ihr Scheitern. Er kennt jeden Menschen mit all seinen Ecken und Kanten. Die fromme Fassade nützt nichts und braucht es nicht. Sie strengt oft einfach nur an. Gott liebt den Menschen, ohne Wenn und Aber. Bedingungslos.

Wieviel Freiheit könnte aus der Bindung an Gott, an Christus, entstehen. Wieviel Freiheit könnte entstehen und würde Menschen glücklicher, gelassener und versöhnlicher machen!

Freiheit und Bindung

Paulus ermutigt zur Freiheit. Aber vielleicht muss man Menschen heute dazu gar nicht mehr ermutigen? Eher daran erinnern, dass das eigene Ego und die eigene Freiheit natürlich Grenzen haben muss. Das war schon immer so. "Die eigene Freiheit endet dort, wo die Freiheit des anderen beginnt". Dieses Wort ist so alt und häufig zitiert, dass man gar nicht mehr sicher weiß, wer das zum ersten Mal so formuliert hat. Manchmal bekommt man das Gefühl, dass sich manche Leute eher zu viele Freiheiten nehmen. Da wird bei Twitter und Facebook, im Fernsehen geschimpft und beleidigt, Prominente werden in ihren Schwächen seziert, und Mitschüler Lehrerinnen und andere bekommen ihr Fett weg. Häme und Spott scheinen für manche ganz normal – und wie es den Betroffenen damit geht ist kaum einen Gedanken wert. Paulus hat Häme, Spott und Beleidigungen selbst erlebt und er hat darunter gelitten. Nein, eine willkürliche Freiheit ohne Regeln ist nicht im Sinne des Paulus. Er spricht davon, dass er selbst erst frei wurde, als er sich in seinem innersten mit Christus verbunden fühlen konnte. Freiheit, weil es dafür einen inneren Kompass gibt. Freiheit, weil man sich gebunden und von Gott gehalten weiß. Da ist die Freiheit des Paulus.

Mir fällt zur Bindung und Freiheit ein Bild aus meiner Kindheit ein. Mit meiner Mutter habe ich einen Drachen gebaut. Das Gerüst aus Holzleisten, bespannt mit Drachenpapier, ganz wichtig ein Schwanz, der den Flug stabilisiert und natürlich eine lange Drachenschnur. Und was war der erste Flugversuch für ein Abenteuer. Meine Mutter hielt den Drachen, dann lief ich los, gegen den Wind, gab immer mehr Schnur frei, nur so viel, dass der Drachen auf Spannung blieb und doch so viel, dass er immer weiter hinaufstieg. Und was war ich stolz, als er soweit da oben, ganz klein schon, im Wind tanzte. Was ich schnell verstand: Der Drachen kann dort oben so frei und fröhlich fliegen, weil er mit seiner Schnur an der Hand des Kindes gebunden war.

Sich gebunden fühlen, macht frei und konzentriert. Und am Ende der Tage, hoffentlich ganz frei. Kürzlich sagte mir ein älterer Herr, der auf ein sehr erfolgreiches Leben zurückschaut: "Wissen Sie, ich hätte den ganzen Baum da draußen mit den Patenten meiner Erfindungen behängen können. Ich hatte viel Erfolg. Ich war so etwas wie prominent. Das bedeutet mit nicht mehr viel. Viel wichtiger sind mir meine Frau, meine Kindern, die Enkel. Ich lebe gerne. Aber wenn ich abtreten muss, wenn mein Herrgott sagt, es ist Zeit, dann gehe ich. Und ich gehe dann mit dem Gefühl. Es hält mich hier nichts mehr. Ich bin frei, ich darf gehen."