Der Sommer meiner Kindheit, liebe Hörerinnen und Hörer, war ein kleines, geducktes Holzhaus, draußen, hinter dem Dorf. Nur für Eingeweihte zu sehen, spitzte sein Giebel leicht über die Fliederhecke, so, als wolle es sich immer wieder einmal kurz seiner privilegierten Lage inmitten bunter Blumenwiesen vergewissern, um dann wieder zufrieden in seiner Einsiedelei zu verharren.

Einige Jahrzehnte hatte das Häuschen damals schon auf dem Buckel. Es war ohne Komfort, gerade recht für die Sommerwochenenden, die ich als Kind dort mit meiner Familie verbrachte. Man erreichte es über einen Feldweg, der immer schmaler, immer holpriger wurde, je näher man dem Häuschen kam.

Der kleine Garten drumherum wäre ohne den Zaun nahtlos in die Blumenwiesen übergegangen, wo es gesummt und gebrummt und gestochen hat. Auf einer Seite diente ein kleiner Bach als Grundstücksbegrenzung; wie gemacht für Schlammschlachten mit meiner Schwester. Ein morscher Steg führte über das Wasser in den angrenzenden Wald – Schatten, Durchatmen in der Sommerhitze, dazu der Duft der Kiefernnadeln, von Ameisen zu atemberaubenden Gebilden angehäuft. Ein guter Ort, um Blaubeeren und Maronen zu sammeln oder um toten Maulwürfen die letzte Ehre zu erweisen.

Besitzer dieses Idylls unweit von Bayreuth waren meine Großeltern. Ihnen, Stadtmenschen wie wir, war das alte kleine Haus sonn- und feiertags Rückzugsort, und damit auch lange Zeit der unsre. Ein Wimmelbuch des Lebens, in jedem Winkel gab es etwas zu entdecken. Ein Paradies auf Zeit.

Vielleicht war mir das als Kind auch irgendwie bewusst. Bevor wir wieder nach Hause gefahren sind, bin ich immer noch einmal auf die Wiese gerannt und habe mir einen Blumenstrauß gepflückt: Zwei, drei Stängel gelber Hahnenfuß, ein Büschel Margeriten. Etwas Labkraut, das so wunderbar nach Honig duftete. In der Mitte die lila Flockenblumen, ein paar von den zarten Wiesen-Glockenblumen, einige Stängel von den erfrischend sauer schmeckenden Wiesen-Sauerampfer oder von der Taubnessel mit ihren lustigen Flecken. Schade, immer wieder, dass ich die Mohnblumen am Ackerrand nur ansehen durfte, aber der Strauß war auch so wunderschön. Wir konnten aufbrechen.

Ein wenig, denke ich heute, war dieser Strauß so etwas wie meine Besamimbüchse: Es ist Brauch im Judentum, am Ende des Sabbats an einem Gewürzbehälter, der Besamimbüchse eben, zu riechen, um etwas vom besonderen Geschmack des Festes mit in den Alltag zu nehmen. Der Strauß hat mir etwas von der Welt der Blumenwiesen, Tannennadeln und Falter in meinen Kinderzimmer-Alltag hinübergetragen. Die zahllosen Mückenstiche und Brennnesselspuren auf etwas andere Art übrigens auch.

Die Idylle rund um das kleine Holzhaus ist längst Vergangenheit. Meine Großeltern leben nicht mehr, das Häuschen hat mit ihrem Tod seine Rolle als Zentrum unbeschwerter Großfamilientage verloren, schließlich wurde es verkauft. Man hegte nun eigene Gärten, führte sein eigenes Leben anderswo. Ich bin weggezogen, anderes wurde wichtig, die Sommertage meiner Kindheit verblassten wie alte Fotos.

Bis ich dann aus einer vagen Sehnsucht heraus eines Tages doch noch einmal hingefahren bin an diesen Ort, der mir den Sommer bedeutet hatte – mit Herzklopfen, wie vor der Begegnung mit einer Jugendliebe, und mit der dunklen Vorahnung, dass nichts mehr ist, wie es einst war. Und so war es auch.

Das Gewerbegebiet hatte den kleinen Bach längst erreicht. Er war übrigens jetzt gerade, durch Steine begrenzt, sauber sah es aus, hier würde niemand mehr eine Schlammschlacht wagen. Der Feldweg war auch nicht mehr holprig, sondern breit und asphaltiert. Und die Blumenwiesen? Es gab noch Wiesen, ja. Aber was darauf wuchs, gab keinen Strauß mehr her. Gesummt und gebrummt oder gestochen hat es dort auch nicht.
Ich bin danach nie wieder hingefahren.

Verlorenes kleines Paradies. Freilich, da ist auch Verklärung im Spiel, wie das eben so ist, wenn es um Kindheit und ihre Orte geht. Trotzdem: Der Verlust dieser lebendigen Vielfalt rund um das Holzhäuschen steht nicht für sich allein, es ist, als habe auch an vielen anderen Orten jemand nach und nach aus dem Wimmelbuch des Lebens die Details ausradiert.

Kaum mehr Insektenflecken auf der Windschutzscheibe nach einer Fahrt über die Landstraße - kein Wunder, die Menge der geflügelten Insekten hat in den letzten zwanzig Jahren in Deutschland um zwei Drittel abgenommen. Selten, dass noch eine blütenreiche Wiese am Straßenrand Kinder zum Pflücken eines bunten Straußes – oder eben Bienen zum Bestäuben –einlädt. Verschwindend die Zahl der Gräser, die sich durch Gartenzäune hindurch Richtung Straße in fröhlicher Anarchie winden und damit Insekten eine Heimat bieten. Kaum mehr blühende Kräuter auf dem Weg am Waldrand, auf deren Existenz zahlreiche Schmetterlingsarten angewiesen sind.

Und überall gepflegter Rasen – früher ein Statussymbol der Herrscher, scheint es mitunter, als sei jedes zweite Reihenhaus Sitz eines kleinen Gartenmonarchen, der Samstag für Samstag den Kampf gegen das Grün aufnimmt - und gegen die Sehnsucht des Gartens, wieder bunt zu werden.

Was tun wir da eigentlich? Michael Jackson fragt das in seinem "Earth Song". Was tun wir mit dieser Erde, was ist mit den Blumenwiesen, mit dem Regen, mit den Tieren? Was ist mit all dem, fragt Jackson, wovon du sagst, sie wären mein und dein? Hast Du jemals innegehalten, um wahrzunehmen, wie diese Erde schreit und ihre Küsten weinen? "Wäre der Mensch Gottes Abbild, müssten die Tiere Atheisten sein" (K. Marti, Im Sternzeichen des Esels, S. 122.) hat der Schweizer Pfarrer und Lyriker Kurt Marti einmal lakonisch kommentiert.   

Eine weinende Erde besingt Michael Jackson hier. Dabei könnte es auch so anders sein. Ich denke an Worte des Propheten Jesaja:

Die Wüste und Einöde wird frohlocken, und die Steppe wird jubeln und wird blühen wie die Lilien. Sie wird blühen und jubeln in aller Lust und Freude. […]Dann werden die Augen der Blinden aufgetan und die Ohren der Tauben geöffnet werden. Dann wird der Lahme springen wie ein Hirsch, und die Zunge des Stummen wird frohlocken. Denn es werden Wasser in der Wüste hervorbrechen und Ströme im dürren Lande. Und wo es zuvor trocken gewesen ist, sollen Teiche stehen, und wo es dürre gewesen ist, sollen Brunnquellen sein.

Dieser Garten ist Zukunftsmusik. Ein Sehnsuchtsort der Zukunft. Es ist der Paradiesgarten am Ende der Zeit, den Jesaja beschreibt. Ein Garten als Bild von Erlösung: blühend, sprudelnd, jubelnd. Ein Garten als Bild einer Hoffnung: Wir sind noch nicht zu Hause- in dieser Welt, in dieser Zeit. Wir hoffen auf ein Leben, in dem wir frei sind, alles ablegen, was uns lähmt und einengt. Ich denke an den Garten meiner Kindheit – pralles Leben, sattes Grün. Sehnsuchtsort der Vergangenheit.

Ein Garten als Kontinuum der großen Geschichte Gottes mit den Menschen: Am Anfang der Zeit, so der Mythos unseres Glaubens, stand ein Garten, der gut war, in dem es wimmelte vor Leben, in den Gott die Menschen setzte mit den sprechenden Namen: Adam – Erde, und Eva, übersetzt: die am Leben bleibt. Was für ein Zeichen liegt allein in diesen Namen: Erde. Am Leben bleiben. Und am Ende, so die Propheten, wird wieder ein Garten stehen, der gut ist, der jubelt und blüht, voll Lust und Freude. Das ist die Sehnsucht unseres Glaubens.

Eine lustvolle Erde, die jubelt. Ich lasse mir dieses Bild auf der Seele zergehen. Wir stehen nicht nur in der Tradition von Worten, die uns - in aller Verantwortung - über die belebte Natur stellen, so, wie es in der Schöpfungsgeschichte steht, in der Gott die Menschen segnet und spricht:

Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde und macht sie euch untertan und herrschet über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über das Vieh und über alles Getier, das auf Erden kriecht.

Worte, die, aus dem Kontext gerissen, dazu verleiten können, die Welt allein als ein Objekt des Menschen zu begreifen. Der Umweltaktivist Carl Amery etwa hat die Umweltkatastrophen unserer Tage als "gnadenlose Folgen des Christentums" bezeichnet. Ein Freibrief für eine gnadenlose Ausbeutung ist aber nicht Kern der Überlieferung, vielmehr steckt in ihr eine Aufforderung an den Menschen, zu bewahren, zu behüten und verantwortungsvoll seine Umwelt zu gestalten.

Für eine Gleichwertigkeit allen Lebens kann die Schöpfungsgeschichte allerdings nicht herhalten – dafür räumen andere Überlieferungen der jüdisch-christlichen Tradition Tier und Natur einen sehr hohen, mitunter dem Menschen nahezu ebenbürtigen Stellenwert ein. Es gibt wunderbare Texte, wunderbare Lieder in der Schatzkiste unseres Glaubens, die von einem ehrfürchtigen Miteinander auf der Erde singen, von einem Bewahren all dessen, was einzigartig erdacht ist.

Dazu zählt das, was der Theologe und Philosoph Bonaventura im 13. Jahrhundert formuliert hat; die Kirche feiert heute, am 15. Juli, seinen Gedenktag. Bonaventura hat betont, dass alles, was lebt – jede Pflanze, jedes Tier, und sei es noch so klein –, etwas von Gott widerspiegelt:

"Alles Geschaffene ist Schatten, ist Echo, ist Bild, Spur, Ebenbild und Aufführung".

(Zit. nach F. Steffensky, Schöne Aussichten, S. 138)

Rückblickend glaube ich, dass ich das als kleines Mädchen in meiner Wochenendidylle auf meine Weise begriffen habe – sicher nicht mit dem Verstand, aber auf einer anderen Ebene, indem ich gestaunt habe, mich gefreut habe an allem, was ich gesehen, gefühlt, gerochen habe in der Natur.

Alles Geschaffene ist ein Echo Gottes, sagt Bonaventura. Und alles, was geschaffen ist, ist Teil einer wunderbaren Ordnung: Zum einen einer Ordnung hier und jetzt, in diesem Moment – wir haben unseren Platz und brauchen uns gegenseitig: Der Tagfalter braucht die Brennnessel, Ameisen geben Blattläusen Schutz und dürfen dafür die Zuckerlösung trinken, die die Läuse absondern. Und dann gibt es noch eine zeitliche Ordnung, in der wir unseren Platz haben: das eine baut auf das andere auf, wir sind Teil einer großen Entwicklung, einer Geschichte der Schöpfung. Die Ordnung hier und jetzt – und die Ordnung, die auf ein Ziel hinstrebt, in den Worten Jesajas die jubelnde, lustvolle Erde. Beide Ordnungen sind miteinander verbunden, Bonaventura sagt: "wie ein sehr schönes Lied, das dahinfließt gemäß äußerst schöner Harmonien" (Zit. nach U. Krolzik, Vorläufer ökologischer Natur, in: G. Altner (Hg.), Ökologische Theologie, S. 16).

Das gefällt mir. Diese Welt, die Schöpfung: ein sehr schönes Lied. Akkord für Akkord – das Rauschen des Meeres, der Wind in den Weiden. Note für Note – Frühlied der Amsel, Hummelgebrumm. Pausenzeichen zum Luftholen – Schatten des Waldes in der Sommerhitze. Pianissimo – milliardenfaches Gewimmel von Bodenlebewesen in jedem Kubikmeter Humus. Alles ist wichtig, damit die Ordnung nicht kippt, damit die Sinfonie des Lebens nicht aus dem Takt gerät. Alles Geschaffene ist Aufführung, sagt Bonaventura. Das Opus magnum Gottes.

Antonio Vivaldi hat in seinen "Vier Jahreszeiten" diesem Opus Magnum Gottes unverwechselbare Töne und Rhythmen verliehen. Was ist da nicht alles zu hören, zu erahnen, wenn Vivaldi den "Sommer" zum Klingen bringt – furiose Gewitter, die schnellen Läufe eines fliehenden Wildes, der sanfte Wind in den Weiden. Fortissimo, dann wieder piano. Alles Geschaffene ist Aufführung.   

Bonaventura gilt als zweiter Stifter des Franziskanerordens, er war ein Versöhner: innerhalb der verschiedenen Richtungen des Ordens, aber eben auch, was den Menschen und das Leben um ihn herum betrifft. Kein Wunder eigentlich bei einem Mann, dessen Ordensname direkt auf den heiligen Franz von Assisi zurückgehen soll: Einer Legende nach wurde er als schwerkrankes Kind von Franz von Assisi gesegnet und ist dann genesen. Als Franziskus dann im Sterben lag, so erzählte man, habe der kleine Johannes gemeinsam mit seiner Mutter den Heiligen besucht, und Franziskus habe ausgerufen: "O buona ventura". Bonaventura, so sollte Johannes dann als Franziskaner heißen. Übersetzt heißt das: gute Zukunft.

Eine gute Zukunft – die haben wir nur gemeinsam: die Erde und wir. Es gibt viele Wege, an dieser guten Zukunft mitzuwirken: eine blühende Wiese im Garten schaffen, ein Insektenhotel aufstellen, alte Baumsorten hegen – kleine Schritte, große Schritte. Und vor allem: immer wieder Sehnsuchtsbilder malen für ein buntes Wimmelbuch des Lebens, in Gedanken, mit Worten, mit Taten. Den Kindern von kleinen geduckten Holzhäusern und holprigen Feldwegen vorschwärmen und davon, wie schön es ist, bunte Sträuße pflücken zu können für die Woche. Miteinander über Ameisenhaufen staunen, den Duft von Kiefernnadeln genießen, sich über die Anarchie der Gräser im Nachbargarten freuen. Gemeinsam Ehrfurcht vor dem Leben zu haben, wie Albert Schweitzer gesagt hat – und zwar: Ehrfurcht vor allem Leben. Denn alles Leben auf dieser Erde will leben, so, wie ich, wie wir Menschen auch.

Ich denke noch einmal an Bonaventuras Idee von der Ordnung alles Lebenden als einem sehr schönen Lied, in dessen Partitur jede noch so kleinste Note, jede Einzelstimme wichtig ist, damit dieses Lied – damit unsere Welt - nicht aus dem Takt gerät.

Was könnte der Text für ein solches Lied sein? Vielleicht so etwas wie eine sanfte Internationale, in der es aber nicht nur um das Menschenrecht, sondern um die Rechte allen Lebens geht, in der die Solidarität nicht nur den Menschenvölkern, sondern auch den Bienenvölkern und der ganzen Tier- und Pflanzenvielfalt auf der Erde gilt. Oder ein Text ähnlich Friedrich Schillers "Ode an die Freude", nur, dass nun alle Geschöpfe zu Brüdern und Schwestern würden, alle sind sie umschlungen! Aber was braucht es eigentlich einen neuen Text für das Lied allen Lebens – der Heilige Franz hat ihn doch schon überliefert, hat er doch in seinem Sonnengesang alles gesagt, was es zu sagen gibt über die Zärtlichkeit zwischen den Geschöpfen.

Gelobt seist du, mein Herr,
mit allen deinen Geschöpfen,
zumal dem Herrn Bruder Sonne,
welcher der Tag ist und durch den du uns leuchtest.
Und schön ist er und strahlend mit großem Glanz:
Von dir, Höchster, ein Sinnbild.
Gelobt seist du, mein Herr,
durch Schwester Mond und die Sterne;
am Himmel hast du sie gebildet,
klar und kostbar und schön.
Gelobt seist du, mein Herr,
durch Bruder Wind und durch Luft und Wolken
und heiteres und jegliches Wetter,
durch das du deinen Geschöpfen Unterhalt gibst.
Gelobt seist du, mein Herr,
durch Schwester Wasser,
gar nützlich ist es und demütig und kostbar und keusch.
Gelobt seist du, mein Herr,
durch Bruder Feuer,
durch das du die Nacht erleuchtest;
und schön ist es und fröhlich und kraftvoll und stark.
Gelobt seist du, mein Herr,
durch unsere Schwester, Mutter Erde,
die uns erhält und lenkt
und vielfältige Früchte hervorbringt
und bunte Blumen und Kräuter.
Schwester Wasser. Bruder Feuer. Mutter Erde, die uns erhält.
Ich wünsche Ihnen, liebe Hörerinnen und Hörer, einen Sommer, in dem Sie sich freuen können, immer wieder, über Früchte, Blumen und Kräuter, über Hummelgebrumm und eine klare Sternennacht. Über eine wundervolle Welt eben, deren Gäste wir alle sind. Und die es zu bewahren gilt.