Was der Nationalsozialismus an blühendem jüdischem Leben unwiederbringlich vernichtete, kann anhand dem Novemberpogrom in der Stadt Schweinfurt deutlich gemacht werden. Die Worte "jüdisches Leben" sind dabei in mehrfacher Hinsicht zu lesen:

  • Zum einen geht es hier um konkrete Menschenleben. 1928 umfasste die jüdische Bevölkerung der Industriestadt 485 Personen, die aufgrund der Repressalien abwanderten oder in den Tötungslagern ums Leben kamen.
  • Zweitens ist mit den vielen Menschen auch das öffentliche religiöse Leben aus Schweinfurt verschwunden, das sich in der Synagoge vollzog und dem herausragende Rabbiner wie Meier Lebrecht (1808‒1890), Dr. Salomon Stein (1866−1938) und Dr. Max Köhler (1899‒1987) vorstanden.
  • Und zum dritten ging auch das innovative wirtschaftliche Leben der jüdischen Schweinfurter zugrunde: die Basaltstein GmbH von Adolf Stein, die Schuhfabrik Heimann (siehe Bild), das Schuh-Unternehmen "Silberstein & Neumann", die Essig-, Konserven- und Likörfabrik Löw Hirsch, die zwei Weingroßkellereien "S. Mohrenwitz Söhne" und "L. Mohrenwitz", das Konfektionsgeschäft "Gebrüder Bildstein", die Weingroßhandlung "Marcus Marx" und andere mehr.
Briefkopf der Firma Heimann, 1905
Briefkopf der Firma Heimann, 1905.

Der Gedenktag

An den gewaltsamen Untergang des jüdischen Lebens denken engagierte Schweinfurterinnen und Schweinfurter jährlich am 9. November. Dieser Termin hat sich seit den 1970er-Jahren als bundesdeutscher Gedenktag für die jüdischen Opfer des Nationalsozialismus etabliert. Die Bedeutung dieses Gedenktages liegt im lokalen Bezug. In den Orten, in denen Jüdinnen und Juden lebten, wurden diese während der Novemberpogrome 1938 drangsaliert und zumeist auch vertrieben. Wo Synagogen vorhanden waren, hatte man diese entweder zerstört oder zumindest geschändet.

Der festgelegte Gedenktag darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass an manchen Orten die Ausschreitungen zwei Tage lang dauerten, also den 9. und den 10. November umfassten. Und in einigen unterfränkischen Orten wie Bad Neustadt/Saale und Mellrichstadt waren die jüdischen Gebetshäuser bereits Ende September heimgesucht worden. In Schweinfurt wiederum fand der Pogrom ausschließlich am 10. und nicht am 9. November statt.

Der Schweinfurter Pogrom

Wie ein beteiligter Täter rückblickend berichtete, sei "am 10. November, früh um 4 Uhr, von der Gauleitung die Weisung" an die SA gekommen, noch am selben Tag "gegen die Juden in Schweinfurt und Umgebung vorzugehen": "Zwischen 7 und 8 Uhr traf sich die SA zur Befehlsausgabe, und dann ging es los, in 'Räuberzivil' natürlich, bewaffnet mit Äxten, Beilen und Spitzhacken."

Die Täter demolierten in der Abwesenheit der zum Teil verhafteten Männer die Wohnungen und die etwa 20 Ladengeschäfte der jüdischen Bevölkerung. Ein Passant sagte später aus, dass er "in die Gesichter dieser ‚Männer‘ blickte. Sie waren anscheinend überzeugt, für Deutschland eine große Tat zu vollbringen". Die Ausschreitungen am Albrecht-Dürer-Platz fasste das Landgericht Schweinfurt so zusammen:

"Aus der Siebenbrückleinsgasse, einer Gasse, welche auf den Albrecht Dürerplatz einmündet, kamen zahlreiche Personen und drangen in die dem Anwesen Bildstein gegenüberliegende Wohnung der Israeliten Neumann ein und führten dort Zerstörungen durch. Nachdem der Haufen die Wohnung Neumann verlassen hatte, überquerten die Teilnehmer desselben den Albrecht Dürerplatz und drangen in das Anwesen Bildstein ein. Die Gewalttäter wollten die Auslagenscheiben zerschlagen, wurden aber daran von der Schwester des Kaufmanns K., welcher das Anwesen Bildstein käuflich erworben hatte, verhindert. Die Eindringlinge verübten in der Wohnung Bildstein Gewalttätigkeiten an der Wohnungseinrichtung." 

Wohn- und Geschäftshaus der Familie Neumann während des Ersten Weltkriegs.
Schweinfurt, Albrecht-Dürer-Platz 6, Wohn- und Geschäftshaus der Familie Neumann während des Ersten Weltkriegs.

Die Zerstörungen verliefen bei den meisten von Juden bewohnten Häusern und Geschäftsgebäuden ähnlich. Sie betrafen die Familie Sachs in der Oberen Gasse 16, das Viehhändler-Ehepaar Neuburger und den Bäcker Max Schlorch in der Theresienstraße, Herrn Brudersohn am Fischersteig 111, Julius und Rosa Frank am Kiliansberg 11 und den Weinhändler Mohrenwitz am Kornmarkt 5. Nach der Randale in der Wohnung von Leopold und Recha Rosenthal am Oberen Wall 21 fehlten hinterher verschiedene Wertpapiere, Ringe, eine Herrenarmbanduhr und 135 Reichsmark an Bargeld. Besonders pikant: Zum Anwesen Dreschfeld in der Krummen Gasse nahm einer der Täter seinen zehnjährigen Sohn mit, welcher nach seiner Rückkehr zu einer Nachbarin sagte:

"sie seien eben in einer Judenwohnung gewesen und hätten dort drei zitternde Juden gesehen."

In der Luitpoldstraße 15 lebte das Ehepaar John und Therese Gutmann. John Gutmann berichtete, dass am 10. November "ein Kommando" kam und zunächst die an Sigmund und Lilly Marx vermietete Wohnung demolierte. Als besonders aggressiver Täter machte ein 29-jähriger Gärtner auf sich aufmerksam, der gegenüber dem Anwesen der Gutmanns lebte und schon früher John Gutmann als "Stinker, der weggehört", beschimpft hatte. Der 29-Jährige hatte aus weltanschaulicher Überzeugung die evangelische Kirche verlassen und war bereits 1935 wegen öffentlicher Zusammenrottung und Sachbeschädigung angeklagt worden. Jetzt ließ er laut die Fensterscheiben zu Bruch gehen.

Ein Zeuge erinnert sich: "Frau Marx saß auf ihrem Bett und weinte."

An diesem Nachmittag erfuhr die Mutter des Gärtners, dass nur in der vermieteten Wohnung, nicht aber bei Gutmanns selbst randaliert worden war. Sie rief gleich bei der Kreisleitung an, sodass am Abend noch ein Trupp vorbeikam – darunter erneut der Gärtner. Nun wurden bei Gutmanns sämtliche Möbel, die Korridortür, die Standuhr und die Federbetten kaputt gemacht. Der Gärtner versuchte, mit mitgebrachtem Werkzeug Gutmanns Kassenschrank zu öffnen, was aber misslang.

In Synagoge und Gemeindehaus

Um Zerstörungen anrichten zu können, verschafften sich die SA-Männer Zugang zur Synagoge in der Siebenbrückleinsgasse 14. Sie zertrümmerten die Einrichtungsgegenstände einschließlich der Kultgeräte und entweihten die Torarollen, indem sie diese zum Teil in den Hof warfen und mit Füßen traten. Eine Anzahl von Ritualien und Torarollen, darunter Kultgegenstände, die aus den Gemeinden Arnstein, Gochsheim und Ebelsbach nach Schweinfurt überführt worden waren, wurden beschlagnahmt. Aus dem direkt angrenzenden jüdischen Gemeindehaus wurden 500 Reichsmark an Bargeld gestohlen. Aus den sich dort befindenden Wohnungen des Rabbiners Köhler wie des Lehrers wurden Bücher und Gemeindearchiv konfisziert.

Im Synagogenhof hängte man eine Schlinge an einen Kastanienbaum und rief dazu: "Daran wollen wir den Rabbi hängen!" 

Eine Zeugin gab später an, sie habe gesehen, wie vor der Synagoge "ein Mann ein Judenkind in die Ecke geschleudert habe". Aus dem Keller des Gemeindehauses wollten die Täter etwa 80 Flaschen Wein mitgehen lassen. Als der NSDAP-Ortsgruppenleiter dies sah, rief er den SA-Männern zu: "Ihr wollt doch von den Judenstinkern nichts saufen." Danach verlangte er, die Flaschen an der Wand zu zerschlagen.

Schweinfurt, Innenaufnahme der 1874 eröffneten Synagoge
Schweinfurt, Innenaufnahme der 1874 eröffneten Synagoge.

Bis vor wenigen Jahren ging man davon aus, dass die Schweinfurter Ritualgegenstände bis auf ein paar Ausnahmen im Zuge der Novemberpogrome 1938 vernichtet worden seien. Das galt auch für die Kultgegenstände der Gemeinden Arnstein, Ebelsbach und Gochsheim, die in den Besitz der Schweinfurter Gemeinde übergegangen waren. Tatsächlich waren einige Ritualien und Torarollen erhalten geblieben und in ein Depot des Fränkischen Luitpoldmuseums (seit 1939 Mainfränkisches Museum, heute Museum für Franken) nach Würzburg verbracht worden, wo sie bei der Bombardierung 1945 zum Teil beschädigt wurden. Danach gerieten sie in Vergessenheit.  Im Jahr 2016 wurden die sieben Kisten im Würzburger Depot wiederentdeckt und den Kultusgemeinden zugeordnet.

Wie es weiter ging

Die Schweinfurter Ausschreitungen vom 10. November schockierten selbst einen NS-Funktionär, der am 11. November mit Verve einen Brief an Goebbels schrieb:

"Vor 14 Tagen war ich unter Ihren Geburtstagsgratulanten. Heute spreche ich Ihnen mein tiefstes Bedauern aus, daß sie zum Führerstab eines Volkes gehören, das solcher Ausschreitungen fähig ist wie sie gestern hier geschahen. Unter den Augen der Polizei!! schlugen SS, SA u. NSKK-Leute in Zivil sämtliche jüdische Haushaltungen vollkommen in Trümmer […] 80jährige, schwerkranke Menschen trieb man auf die Straße, wehrlose Frauen und Mädchen trieb man auf dem Viehhof zusammen, die deutsche Hitlerjugend schrie u. johlte dazu und warf auf diese Menschen mit Steinen, in der Umgebung sollen Synagogen brennen […] Weinen könnte man, schämen muß man sich, ein Deutscher zu sein […] Spätere Generationen werden diese Greueltaten mit den Zeiten der Hexenprozesse vergleichen. Und niemand traut sich, ein Wort dagegen zu sagen"

Der Verfasser jener Zeilen traute sich auch nicht; sein Schreiben an Goebbels blieb anonym.

Im Jahr 1939 gingen Synagogengebäude und Gemeindehaus mit Lehrer- und Rabbinerwohnung in den Besitz der Stadt über, die einen Teil des Anwesens 1940 an die Sparkasse veräußerte. Bei Bombenangriffen am 17. August und am 14. Oktober 1943 wurde das Synagogengebäude zerstört; nur der Ostabschluss und die südliche Seitenwand blieben stehen. Das vormalige jüdische Gemeindehaus wurde nur beschädigt und konnte wieder für Wohnzwecke instand gesetzt werden. Doch Mitte der 1960er-Jahre veranlasste die Sparkasse den Abbruch des Hauses. Seitdem befindet sich dort ein Parkplatz und an dessen Rand seit 1973 eine Gedenkstätte, die – wie bis zuletzt im Jahr 2020 – immer wieder erweitert wurde.

Verglichen mit anderen unterfränkischen Orten setzte die Erinnerung an die ehemalige jüdische Präsenz und an die NS-Verbrechen in Schweinfurt also relativ früh ein. Bei dem ersten Gedenkstein 1973 wurde fälschlicherweise noch 9. November, nicht 10. November 1938 angegeben. Ehemalige Schweinfurter Juden, die Jahrzehnte nach ihrer Emigration in die Siebenbrückleinsgasse kamen, störten sich an dem Parkplatz und der Lage der Gedenkstätte an der Seite des Areals. Sie hätten sich anstelle des Auto-Abstellplatzes einen größeren, begrünten Gedenkpark gewünscht.

Die Sparkasse in Schweinfurt, wo früher die Synagoge stand
Schweinfurt, Standort von ehemaliger Synagoge und Gemeindehaus. Rechts unter dem Baum die Gedenkstätte.

Und heute?

Seit einigen Jahren wird in der jüdischen Gemeinschaft kontrovers diskutiert, ob Juden überhaupt noch eine Zukunft in Deutschland haben. Zu unausrottbar ist der Antisemitismus. Keine Aufklärungskampagne konnte verhindern, dass den Juden insgesamt und als Kollektiv noch immer Böses unterstellt wird. Anders als Kirchengebäude müssen Synagogen aufwändig bewacht und mit ausgefeilten Sicherheitssystemen beschützt werden. Zu groß ist die Gefahr von Anschlägen. Wer in der Öffentlichkeit durch seine Kleidung als Jude erkennbar ist, muss auf der Straße oder in Verkehrsmitteln mit Übergriffen rechnen. In öffentlichen Schulen werden jüdische Kinder von Mitschülern antisemitisch beschimpft.

Jüdische Deutsche stellen sich wieder die Frage, ob es im Staat Israel sicherer ist als in der Bundesrepublik. Als Gesamtgesellschaft tun wir uns nach wie vor schwer, der jüdischen Bevölkerung eine geschützte Heimat in Deutschland zu bieten. Dass aber Forschungsarbeiten wie der "Synagogen-Gedenkband Bayern" veröffentlicht und finanziert werden konnten und dass dieser genauso wie der vorliegende Artikel gelesen wird, lässt hoffen.

 

Unser Gastautor Dr. Gerhard Gronauer

Dr. Gerhard Gronauer ist Pfarrer der bayerischen Landeskirche sowie Lehrbeauftragter für Kirchengeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts und war Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Forschungsprojekt "Synagogen-Gedenkband Bayern". Für das heuer erschienene zweibändige Werk (siehe unten) hat er zusammen mit Hans-Christof Haas die Geschichte der jüdischen Gemeinde Schweinfurt und ihrer Synagoge dokumentiert.

Mehr als Steine ... Synagogen-Gedenkband Bayern. Teilband III/2: Unterfranken

Wolfgang Kraus, Hans-Christoph Dittscheid, Gury Schneider-Ludorff

Mit der Zerstörung der Synagogen in Deutschland in den Novemberpogromen 1938 ging eine jahrhundertealte Tradition jüdischen Lebens in unserem Land fast völlig zugrunde. Um die Erinnerung an die Bauten und ihre Gemeinden zu bewahren, werden - auf Anregung des Synagogue Memorial Institute Jerusalem - bundesweit Synagogen-Gedenkbände erstellt.

Den jüdischen Gemeinden in Bayern und ihren Gotteshäusern wird mit dem Synagogen-Gedenkband Bayern, dessen Abschluss der vorliegende Teilband bildet, in Text und Bild ein Denkmal gesetzt: Das Werk dokumentiert umfassend die jüdische Geschichte aller Orte, in denen es um 1930 auf dem Gebiet des heutigen Bayern Synagogen und Beträume gab. Den Kern des dreibändigen Werks mit über 4.000 Druckseiten bilden mehr als 200 Ortsartikel, in denen die Entwicklung der jeweiligen jüdischen Gemeinden im Zusammenhang mit dem Bau ihrer Synagogen dargestellt wird.

Verlag: Fink Kunstverlag Josef

Seitenzahl: 1.784

ISBN 978-3-89870-450-2

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