Der Krieg in der Ukraine. Die Corona-Pandemie. Die Klimakrise. Wir leben in schwierigen Zeiten, die weltpolitische Lage ist bedrückend und belastet viele Menschen sehr. Woraus können wir derzeit Hoffnung schöpfen? Wie seelische Widerstandskraft entwickeln? Wie kann der Glaube Trost spenden?

In unserer Serie "Zuversicht in der Krise" suchen wir nach Antworten auf diese Fragen – im Gespräch mit Pfarrerinnen, Pfarrern und Expert*innen anderer Fachgebiete. Im ersten Teil unserer Serie erklärt die Diplom-Psychologin Donya Gilan vom Leibniz-Institut für Resilienzforschung in Mainz, wie jeder von uns lernen kann, in einer Krise die eigene psychische Gesundheit aufrecht zu erhalten. Stichwort: Resilienz.

Frau Gilan, was versteht man unter Resilienz?

Gilan: Der Begriff kommt aus der Materialkunde und beschreibt das Phänomen, dass Stoffe nach einer Verformung wieder in ihre Ausgangslage zurückkehren können. In der Psychologie und Medizin versteht man unter Resilienz die "seelische Widerstandskraft". Der Begriff bezeichnet die Fähigkeit, dass Menschen ihre psychische Gesundheit trotz widriger Lebensumstände aufrechterhalten oder sie nach einer Krise zurückgewinnen. Die heutige Resilienzforschung ist das Resultat eines Paradigmenwechsels: Lange Zeit lag der Fokus auf der Ursachenforschung und Behandlung von bestehenden Krankheiten. 1978 verabschiedete die Weltgesundheitsorganisation die Deklaration "Health for all", ein Jahr später entwarf der Medizinsoziologe Aaron Antonovsky sein Konzept der Salutogenese. Beides leitete einen Perspektivwechsel in der Medizin ein: Statt nur die Pathogenese – also die Frage, was den Menschen krank macht – ins Zentrum zu stellen, konzentrierte man sich stärker auf die Frage, was gesund hält.

"Eine gute Nachricht: Resilienz ist nicht die Ausnahme, sondern die Regel! "

Ist seelische Widerstandskraft angeboren, oder kann der Einzelne Resilienz auch erlernen?

Gilan: Die Kunst der Krisenbewältigung ist eine sehr individuelle Angelegenheit. Sie hängt von vielen Faktoren ab: Familiäre Erfahrungen gehören dazu, Freunde, Gene, Werte, Glaubensvorstellungen und die konkrete Lebenssituation. Ein Patentrezept für Resilienz gibt es also nicht. Aber wir haben Hinweise darauf, dass die Resilienz eines Menschen formbar ist. Sicherlich gibt es Menschen, denen es aufgrund ihrer genetischen Veranlagung leichter fällt, optimistisch in die Zukunft zu blicken. Die gute Nachricht für alle ist aber: Resilienz ist erlernbar. Sie entsteht durch Interaktion mit der Umwelt im wirklichen Leben, Tag für Tag. Wie reagiere ich bei Stress und in Krisen? Wie kann ich trotz großer Belastung meine Emotionen steuern? Wie bewerte ich alltägliche Stresssituationen, Misserfolge, aber auch Erfolge? Selbstwirksamkeit, Emotionsregulation und Bewältigungsstrategien sind keine Mechanismen, die man von heute auf morgen erlernt  – es geht hier um einen lebenslangen Lernprozess. Noch eine gute Nachricht: Resilienz ist nicht die Ausnahme, sondern die Regel! Wir kommen alle ständig mit kleineren oder größeren Krisen zurecht.

"Resiliente Menschen sehen in kritischen Situationen ein Entwicklungspotenzial und versuchen, dem Geschehen einen Sinn zu geben."

Was ist dann das Besondere?

Gilan: Für die Forschung interessant ist, warum manche Menschen in extremen Krisen eine besondere Widerstandskraft zeigen. Dafür scheint es einige Mechanismen zu geben: Vielfach wurde in Studien beobachtet, dass besonders resiliente Menschen nicht so lange in einer Passivität verharren, sondern früh nach Möglichkeiten suchen, die ihre Situation positiv verändern könnten. Sie sehen in Niederlagen oder kritischen Situationen ein Entwicklungspotenzial und versuchen, dem Geschehen einen Sinn zu geben: So wird die Situation kontrollierbarer und lässt sich besser in den Lebenskontext integrieren. Menschen, die als resilient gelten, überwinden Schmerz und Trauer schneller als andere, indem sie den Blick in die Zukunft richten, geistig flexibel bleiben, ihre Sichtweise ändern können und an ihrer Einstellung arbeiten. Manche von ihnen erleben das, was die Psychologie als "posttraumatisches Wachstum" bezeichnet: Mit zeitlichem Abstand gehen sie gestärkt aus Krisen hervor.

"Resilienz ist nicht allein Sache des Einzelnen."

Das klingt, als müsste man sich nur anstrengen, und schon klappt es mit der Resilienz…

Gilan: Das wäre die falsche Schlussfolgerung. Es liegt eben nicht alles in der Hand des Individuums; die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und der sozioökonomische Status spielen dabei eine Rolle, die Teilhabemöglichkeiten und viele andere strukturelle Faktoren. Wenn jemand sozial benachteiligt ist, hat er trotz aller Anstrengungen weniger Teilhabechancen. Dann wäre es zynisch zu sagen: Tu dies und das, dann kannst du wieder handeln. Resilienz ist nicht allein Sache des Einzelnen. Es ist eine gesamtgesellschaftliche und politische Aufgabe, Resilienz zu fördern.

Nun gibt es Menschen, die von Haus aus ein dickes Fell haben und die so schnell nichts umwirft. Was haben die, was anderen fehlt?

Gilan: Neben der genetischen Ausstattung ist die Lebensgeschichte wichtig: Wie haben sie bislang Herausforderungen gemeistert? Welche Strategien entwickeln sie bei Niederlagen, Stress und Langeweile? Resilienz wächst in der Krise. Erst durch die Konfrontation mit schwierigen Ereignissen entwickelt man neue Kompetenzen, baut Ressourcen auf und entdeckt Bereiche, in denen man sich noch entwickeln muss. Was hilft, wenn man mitten in der Krise steckt, muss jeder selbst herausfinden.

Können Sie ein paar Beispiele für wirksame Resilienzstrategien geben?

Gilan: Zu Beginn der persönlichen Resilienzförderung ist es hilfreich, sich anzuschauen, wie man selbst in stressigen Situationen reagiert: Zeige ich körperliche Symptome, nehme ich die Situation verzerrt wahr, gerate ich in eine negative Gedankenspirale, verdränge ich das Problem, greife ich zu Alkohol oder anderen Suchtmitteln? Und dem gegenübergestellt: Über welche positiven Ressourcen verfüge ich, um den Stresspegel zu regulieren? Viele Ansätze zur Resilienzförderung entstammen unterschiedlichen psychotheraopeutischen Schulen. Wenn ich beispielsweise zum Grübeln neige, kann ich es mit der ABC-Technik versuchen: Ich erzähle Freunden oder vertrauten Familienmitgliedern von meiner Situation, schildere meine Gedankengänge und frage sie, wie sie das betrachten. Durch einen solchen "sokratischen Dialog" komme ich zu alternativen, realistischeren Sichtweisen.

"Was habe ich zuletzt gemeistert? Warum bin ich stolz auf mich? Was mag ich an mir? "

Durch Methoden wie progressive Muskelentspannung kann ich lernen, körperliche Stresssymptome zu regulieren. Achtsamkeitsübungen helfen dabei, Unruhe abzubauen, Energie zu schöpfen und Geschehnisse - auch unangenehme - zu akzeptieren. Wenn ich jemand bin, der vor allem die Defizite sieht, könnte ich meine Selbstwirksamkeit stärken: Statt mich ständig zu kritisieren, konzentriere ich mich auf meine Stärken. Auf eine Postivliste schreibe ich: Was habe ich zuletzt gemeistert? Warum bin ich stolz auf mich? Was mag ich an mir? Oder man fragt andere, die einen gut kennen: Warum glaubt ihr an mich? So richtet man den Blick auf die eigene Person an positiven Aspekten aus. Positive Emotionen dienen als Kraftquelle. Also kann ich versuchen, mehr Genussmomente in meinen Alltag einzubauen: eine Mittagspause in der Sonne, kurze Atemübungen, ein Lieblingsbild vom letzten Urlaub, aufmunternde Gedanken. Wichtiger als die Intensität von Glücksmomenten ist die Häufigkeit. Um den optimistischen Blick auf die Zukunft zu fördern, könnte ich es mit einem Glückstagebuch versuchen: Jeden Abend schreibe ich ein oder zwei Dinge auf, die mich heute glücklich gemacht haben. Das klingt banal, aber die Wirksamkeit ist wissenschaftlich belegt. All diese kleinen Strategien können das psychische Immunsystem stärken.

Durch die bewusste Konzentration auf positive Ereignisse findet eine kognitive Umstrukturierung statt. Das klappt nicht innerhalb einer Woche, aber langfristig werden dadurch Bewertungsprozesse positiv verändert. Eine spannende Frage ist, wie man Ereignisse deutet: Mache ich mich selbst für alles verantwortlich, oder schreibe ich Ursachen auch mal externen Umständen zu? Eine gute Strategie für höhere Resilienz wäre, bei Misserfolgen auch die äußeren Faktoren einzubeziehen, aber nach Erfolgen vor allem die eigene Leistung hervorzuheben – das stärkt den Selbstwert.

"Die Resilienzforschung konnte nachweisen, dass persönlicher Glauben durch Gemeinschaft und Spiritualität auch stabilisierend wirken kann."

Ist Religiosität auch ein Resilienzfaktor?

Gilan: Sinnstiftung kann durch Quellen wie den Beruf oder die Familie hergeleitet werden, aber auch durch den Glauben. Persönliche Rituale wie Beten, Meditation, Yoga wirken stabilisierend, Glaubenswerte beeinflussen die Gedankengänge und geben Orientierung. Die Teilnahme an Veranstaltungen meiner Glaubensgemeinschaft kann mein soziales Netz stärken und mir Halt geben. Lange Zeit wurde kritisiert, dass Religion kein Schutzfaktor sei, sondern die Ursache für viele Neurosen, beispielsweise im Bereich der Sexualität. Die Resilienzforschung konnte nachweisen, dass persönlicher Glauben durch Gemeinschaft und Spiritualität auch stabilisierend wirken kann.

Sonntagsblatt-THEMA: Die Kraft der Seele – Was uns fürs Leben stark macht

Das gesamte Interview mit Diplom-Psychologin Donya Gilan lesen Sie im Sonntagsblatt-THEMA: "Die Kraft der Seele – Was uns fürs Leben stark macht, das Sie online bestellen können.

In dem THEMA-Heft kommen außerdem Menschen zu Wort, die eine Krise durchlebt haben. Auch in der Bibel gibt es Krisengeschichten. Der Apostel Paulus, rat- und mutlos im Kerker von Rom. Hiob als Spielball im göttlichen Stresstest. Daneben bietet das THEMA-Heft Alltagsübungen für eine starke Seele und Ideen, wie Sie die Resilienz Ihrer Kinder und Enkelkinder stärken können.