Die religiöse Vielfalt nimmt zu - doch fehlen präzise statistische Angaben, denn bis auf die christlichen Kirchen gibt es kaum wissenschaftlich erhobene Daten zu Religionen oder Weltanschauungen. Hinzu kommt das Problem, dass die persönliche religiöse Identität nicht unbedingt mit einer Mitgliedschaft zu tun hat. Manche Wissenschaftler versuchen daher, neue Messmethoden zu entwickeln, die das soziale und kulturelle Umfeld oder den Einfluss von Ideologien mit berücksichtigen.

Um Zahlen bemüht sich etwa der Religionswissenschaftliche Informationsdienst (REMID) in Marburg. Seit 2009 registriert und beschreibt diese Einrichtung neue religiöse Strömungen mit dem Ziel, »gesellschaftlichen Tendenzen« entgegenzuwirken, etwa mit viel zu hohen Schätzungen in der Bevölkerung für »Panikmache« zu sorgen. Aus dem aktuellen Trendreport des REMID-Instituts wird deutlich, wie kompliziert die Strukturen geworden sind. Allein die Bezeichnungen bei den christlichen Religionen: Da gibt es die Altkatholiken Utrechter Union, Christkatholische, Liberalkatholische und iro-schottische Christen, Baptisten und Mennoniten, freikirchliche Pfingstgemeinden und Bewegungen wie Vineyard und Emerging-Church.

Mitgliederentwicklung bei Religionsgemeinschaften - Religiöse Vielfalt wächst

Dass die religiöse Vielfalt zunimmt, bestätigt auch der Religionsmonitor, der erstmals 2008 von der Bertelsmann-Stiftung durchgeführt wurde. Bei der zweiten Umfrage 2013 wurden mehr als 14.000 Menschen aus 13 Ländern zu ihren Überzeugungen, Einstellungen und Verhaltensweisen in Bezug auf Religion und Glaube befragt. Auf Deutschland bezogen kamen die Forscher zu dem Ergebnis, dass Religiosität individueller wird - und sich zunehmend ausdifferenziert.

Während 1950 in Deutschland noch 95,6 Prozent der Bevölkerung der evangelischen oder der katholischen Kirche angehörten, waren es sechzig Jahre später laut Religionsmonitor nur noch 60 Prozent. Der Anteil der Konfessionslosen stieg bis 2010 auf 30 Prozent, weitere zehn Prozent gehören einer anderen Religion oder Glaubensrichtung an - wobei Muslime mit einem Anteil von etwa fünf Prozent der Gesamtbevölkerung dabei die größte Gruppe bilden.

 

»Image« der Religionen entscheidend

Das Christentum wird in Deutschland von den meisten Befragten als Bereicherung und als »Fundament der Kultur« angesehen. Hinduismus und Buddhismus haben ihrerseits das »Image von friedensstiftenden Religionen, die anderen religiösen Überzeugungen mit Toleranz und Respekt begegnen«. Anders bei Judentum und Islam: Gegenüber jüdischen Bürgern sind die Menschen »noch stark von Vorurteilen und Ängsten bestimmt«, so die Studie. Und auch der Islam werde von vielen Menschen als etwas »Fremdes, Andersartiges und Bedrohliches« empfunden.

Der bayerische landeskirchliche Beauftragte für den interreligiösen Dialog, Rainer Oechslen, beobachtet, dass der Islam in das politische Leben der Gesellschaft bei weitem nicht so integriert sei wie christliche Institutionen. »Die Gesellschaft ist reizbarer geworden als früher, wenn es um Religionen geht«, ist seine Erfahrung. Kopftuchstreit und Moscheenbau seien nur Beispiele für Konflikte, die in der Öffentlichkeit diskutiert werden.

Deutsche haben schwieriges Verhältnis zu nichchristlichen Religionen

Die Gallup-Studie konstatierte bereits 2009, dass die meisten Menschen in Europa ein »allzu sehr vereinfachtes, falsches Verständnis des Islam und des Terrorismus« haben. Von Moslems werde häufig verlangt, die liberalen sexuellen Werte in Europa zu akzeptieren. Dabei werde übersehen, dass »viele andere Europäer genau diese Werte ablehnen« - und der Islam durchaus mit der nationalen Identität verträglich sei.

Dass die Deutschen zu nichtchristlichen Religionen ein eher schlechtes Verhältnis haben, bestätigte auch eine Studie der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster aus dem Jahr 2010. Vor allem wenn man nach der persönlichen Haltung der Menschen zu anderen Religionsgruppen frage, habe in Deutschland nur eine »Minderheit« ein positives Bild von Muslimen. Das Bild, dass sich die Menschen von Muslimen machten, sei »erstaunlich negativ« - so assoziierten sie mit dem Islam etwa Fanatismus, Gewaltbereitschaft und Engstirnigkeit.

Religionsmonitor: Sind die Medien Schuld?

Diese Ergebnisse sind erschreckend, und so wundert es nicht, dass die Autoren des Religionsmonitors in ihrer Studie von 2013 nach Erklärungen suchten. Sie vermuten, dass die Menschen Religionen nicht danach einschätzen, ob sie sie kennen oder Vertreter dieser Religion kennen, sondern vielmehr »welches Bild von ihnen über die Medien verbreitet wird und wie man in der Familie und im Bekanntenkreis über sie redet«.

Diese These bestätigen andere wissenschaftliche Untersuchungen: Malte Hinrichsen und Hajo Boomgaarden von der Universität Amsterdam beispielsweise haben die Medienberichterstattung zum Thema Religion analysiert. Sie kamen zu dem Schluss, dass eine positive Berichterstattung über Religionen die Anschauungen der Menschen beeinflussen kann.

Inzwischen hat offenbar auch die Europäische Union das Problem erkannt: Seit einigen Jahren beschäftigt sich das Projekt »Religare« mit Fragen zur religiösen Vielfalt. In einem Strategiepaper vom Mai 2013 wurden konkrete Forderungen formuliert: So müssen den Experten zufolge die rechtlichen Voraussetzungen für die Glaubensfreiheit in der EU verbessert und die »Gleichbehandlung der Religionsgemeinschaften« vorangetrieben werden.