Viele Menschen bezeichnen sich heute als spirituell, aber nicht religiös. Sie gehen an Weihnachten in den Gottesdienst und am Wochenende zum Zen-Meditationskurs, beten und üben Yoga. In den Vereinigten Staaten hat sich eine eigene Bewegung gegründet: Unter dem Stichwort #sbnr (spiritual but not religious) diskutieren Gleichgesinnte und treffen sich zu Kongressen und Workshops.

Die Welle schwappt nun auch nach Deutschland. Wissenschaftler und Experten diskutierten in München über die »Spiritualität der Zukunft«. Faktisch verändert sich das religiöse Leben in Deutschland massiv. Doch mit welchen Konsequenzen ist zu rechnen?

Soziologe Detlef Pollack: Spiritualität bleibt nebulös

»Der Begriff der Spiritualität bleibt nebulös«, stellt der Soziologe Detlef Pollack von der Universität Münster fest. Spiritualität werde in wissenschaftlichen Definitionen meist mit einer Distanz gegenüber kirchlirchen Dogmen und dem Interesse an praktischen Erfahrungen verbunden. Daher könne im Prinzip auch von Esoterik gesprochen werden.

»Wir müssen die Trennlinien zwischen der kirchlich-christlichen Religiosität und außerkirchlichen Formen der Religiosität erforschen, um Gemeinsamkeiten zu entdecken«, erklärte Pollack. Ausgehend von bestehenden Daten und Umfragen wie der Allbus-Studie untersucht Pollack den Zusammenhang  zwischen der Säkularisierung einer Gesellschaft und dem Gottesglauben.

Tatsächlich deuten die Daten in eine Richtung: In den traditionell katholischen Ländern Polen oder Italien, so die Erkenntnis von Pollack, bezeichnen sich nur wenige Menschen als spirituell, aber nicht religiös. Anders in Norwegen oder Schweden: Hier bezeichnen sich die meisten Menschen als »weder spirituell noch religiös«.

Deutschland wird zunehmend säkular

Was bedeutet das für Deutschland? »Hier schreitet der Prozess der Entkirchlichung voran«, sagt Pollack. Viele Menschen könnten mit der Institution Kirche wenig anfangen und bezeichneten sich daher als spirituell. Dies sei eine Art »Übergangsformel« in eine gänzlich säkulare Welt.

»Die Spannungslinie verläuft zwischen Religiösen und Nichtreligiösen«, resümiert Pollack. Wenn sich die Gesellschaft weiter säkularisiere, müssten »einzelne Formen des Religiösen weiter zusammenrücken«. Organisationen wie die katholische und evangelische Kirche müssen sich dann »stärker behaupten gegen spirituelle Wahrheitssuchende«, so Pollack.

Ceming: Spirituelle Übungen fördern Gesundheit

Einen anderen Ansatz wählt die Philosophin und Theologin Katharina Ceming. Sie verweist auf die wissenschaftlichen Erkenntnisse aus Neurobiologie und Psychologie. »Spirituelle Übungen und Erfahrungen aus Yoga oder Zen-Meditation erzielen positive Veränderungen im Körper«, sagt Ceming. Diese Erkenntnisse erklären auch den anhaltenden Boom des Themas Spiritualität in Publikumszeitschriften.  

Mit der Popularität von Spiritualität und Achtsamkeit steige allerdings auch die Gefahr des Missbrauchs: »Wir dürfen spirituelle Übungen nicht zu einem Selbstoptimierungstool werden lassen«, warnt Ceming. Die Leistungsorientierung der Gesellschaft habe nichts mit Spiritualität zu tun.  

Kirchen und Religionsgemeinschaften könnten in den spirituellen Bewegungen auch die Chance zur Transformation erkennen. Die Menschen würden längst eigene religiöse Traditionen mit neuen Erfahrungen mischen. »Wir sollten die religiöse Rückbindung von Spiritualität an Institutionen überprüfen«, fordert Ceming auf.  

Dass sich Theologen und Geistliche schon lange um einen Brückenschlag zwischen Christentum, Zen-Buddhismus oder Hinduismus bemühen, wird an verschiedenen Persönlichkeiten deutlich.   

Benediktinermönch Henri Le Saux erkundete Hinduismus

Der französische Benediktinermönch Henri Le Saux etwa ging nach Indien und beschäftigte sich intensiv mit dem Hinduismus. Dort gründete er einen Ashram und nahm den Mönchsnamen Swami Abhishiktananda (»Glückseligkeite des Gesalbten») an. »Er wollte den Reichtum der indischen Spiritualität für das Christentum öffnen«, weiß die Religionswissenschaftlerin Bettina Bäumer.

Le Saux sei durchdrungen gewesen von seiner spirituellen Erfahrung und darum bemüht, den Dualismus in der westlichen Gesellschaft aufzulösen. »Wir bauen Mauern zwischen Kulturen und Religionen«, erklärte Bäumer, »doch lehrte er uns, wie wir Trennungen auflösen können«. Eine Spiritualität der Zukunft müsse - so die Erkenntnis von Bäumer - interreligiös verankert sein.

Hugo Makibi Enomiya Lassalle brachte Zen-Meditation nach Europa

Als Wanderer zwischen den religiösen Welten gilt auch Hugo Makibi Enomiya-Lassalle. Der Jesuitenpater erlebte den Abwurf der Atombombe in Hiroshima aus nächster Nähe - und widmete sich aktiv der Friedensarbeit und der Zen-Lehre. Lassalle brauchte die Kunst der Zen-Meditation nach Europa und suchte nach der mystischen Erfahrung Gottes, wie die Biografin Ursula Baatz erläutert. Eine ausführliche Beschreibung des Lebens von Lassalle findet sich hier.

Jesuitenpater Paolo Dall'Oglio förderte christlich-islamischen Dialog

Wie gefährlich mitunter der Dialog zwischen den Religionen sein kann, zeigt das Schicksal des Jesuitenpaters Paolo Dall’Oglio. Er revitalisierte das syrische Kloster Der Mar Musa al-Habashi und wurde am 29. Juli 2013 in Ar-Raqqa von Islamisten festgenommen. Seither gilt er als verschollen, sagt der Jesuitenpater Christian Rutishauser.

Dall’Oglio hat mit seiner Gemeinschaft - zu der Frauen und Männer unterschiedlicher Religionsgemeinschaften gehören - das einfache mönchische Leben mit Gebet, Gehorsam, Ehelosigkeit und Kontemplation gelebt. Zugleich bemühte er sich laut Rutishauser intensiv um den Dialog mit dem Islam. »Für Dall’Oglio bedeutet Spiritualität, mit Differenzen und Anderssein umgehen zu lernen«, meint Rutishauser.

Jede Religion enthält Weisheit - nicht eine Religion alleine enthält alle Weisheit

Spiritualität in Deutschland: Forschungsergebnisse

Zur Religiosität und Spiritualität in Deutschland hat Professor Detlef Pollack von der Universität Münster intensiv geforscht. Die folgenden Schaubilder geben die wichtigsten Erkenntnisse wieder.

 

Schaubild 1: Verbreitung des Glaubens

Das Schaubild zeigt die Verbreitung des Glaubens bzw. der nichtchristlichen Religiosität in Deutschland. Horoskope und Astrologie, Reinkarnation und Kristalle oder Magie stehen bei spirituellen Menschen hoch im Kurs. Dass Amulette, Kristalle und Steine eine Wirkung haben könnten, gaben bei einer Umfrage immerhin 17,3 Prozent an. Die Reinkarnation halten sogar 18,2 Prozent der Menschen für möglich.

Schaubild: Verbreitung des Glaubens - nichtchristliche Religiosität in Westdeutschland - Pollack

Schaubild 2: Kirchenzugehörigkeit in Europa

Über 75 Prozent der Menschen in Europa sind Mitglied einer Kirche. Innerhalb Europas gibt es allerdings große Unterschiede. Wer Kirchenmitglied ist, geht deshalb aber noch lange nicht zum Gottesdienst - nämlich nur rund 17 Prozent, so die Vergleichsstudie.

Schaubild: Religiosität und Kirchenzugehörigkeit in Europa

 

Schaubild 3: Spiritualität in Deutschland

Der Religionsmonitor hat Religiosität, Spiritualität und Kirchlichkeit in Westdeutschland untersucht. Die spirituellen Menschen haben demnach zu rund 20 Prozent das Gefühl, dass etwas Göttliches in das Leben einwirkt. Bei den religiösen Menschen sind dies rund 44 Prozent.

 

Schaubild: Religiosität und Spiritualität in Deutschland

 

Schaubild 4 : Religiosität in Deutschland

Die DDR-Geschichte prägt die Religiosität in Deutschland. Als weder spirituell noch religiös bezeichnen sich rund 34 Prozent der Befragten in Westdeutschland; in Ostdeutschland sind dies immerhin 76 Prozent.

Schaubild: Religiosität und Spiritualität in Deutschland 2

 

Schaubild 5: Glaube an Gott oder eine höhere Macht

An ein höheres Wesen oder Gott glauben in Westdeutschland rund 37 Prozent der Befragten, im Osten sind dies nur 18 Prozent.

Schaubild: Religiosität und Spiritualität in Deutschland 3

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