Abdulkerim Simsek bemühte sich hörbar darum, die Fassung zu wahren: "Ich hätte viele Fragen an die Angeklagten gehabt: Wieso mein Vater? Wie krank ist es eigentlich, jemanden nur aufgrund seiner Herkunft oder Hautfarbe zu ermorden? Was hat mein Vater Ihnen angetan?", sagte er im Juli 2018 einen Tag vor der Urteilsverkündung in dem fünf Jahre dauernden NSU-Prozess vor dem Münchner Oberlandesgericht.

Als 13-jähriger Schüler musste Abdulkerim miterleben, wie sein Vater auf der Intensivstation im Nürnberger Klinikum starb.

Zwei Tage zuvor, am 9. September 2000, war der selbstständige Blumengroßhändler Enver Simsek in seinem Lieferwagen an einer Nürnberger Ausfallstraße mit acht Schüssen von seinen Mördern regelrecht hingerichtet worden. Fünf Kugeln gingen in den Kopf.

Der Chef Simsek hatte an diesem Samstag einen seiner Verkäufer vertreten, weil der im Urlaub war. Der Ehemann und Familienvater, der 1985 aus der Türkei nach Deutschland gekommen war, wurde 39 Jahre alt.

Von 2000 bis 2007: Zehn Morde an türkisch- und griechischstämmigen Menschen

Heute weiß alle Welt: Enver Simsek war das erste Todesopfer der rechtsextremen Terrorgruppe "Nationalsozialistischer Untergrund" (NSU) um das Trio Beate Zschäpe, Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos. Zehn Morde, überwiegend an türkisch- und griechischstämmigen Menschen, gingen von 2000 bis 2007 auf ihr Konto.

Die Medien aber schrieben damals von "Döner-Morden" und die Ermittler suchten das Mordmotiv in der Familie oder im Drogenmilieu. Es könne sich aber auch um eine Abrechnung unter Blumenhändlern handeln, sagte 2001 ein Beamter in der ZDF-Sendung "Aktenzeichen XY ... ungelöst".

Immer sei der Vorwurf im Raum gestanden, "ihr habt etwas zu verheimlichen", schilderte Simseks Tochter Semiya immer wieder die Stimmung, unter der sie jahrelang litt. Sie hat den Mord an ihrem Vater in dem Buch "Schmerzliche Heimat" verarbeitet.

"In den elf Jahren bis zur Aufklärung war mein Vater ein potenzieller Verbrecher", sagt sie in einer Dokumentation. Semiya, im hessischen Friedberg geboren, lebt heute in der Türkei.

Expertin für die Verbrechen der NSU: Alle Hinweise auf Neonazis seien jahrelang ignoriert worden

Ihr Bruder Abdulkerim erinnerte sich 2018 in einer Rede vor dem Oberlandesgericht München, wo der Prozess gegen Beate Zschäpe und vier Helfer des NSU stattfand, an den Tag im Jahr 2011, an dem er die wahren Hintergründe der Tat erfuhr: "Bis zur Aufdeckung des NSU habe ich niemandem erzählt, dass mein Vater umgebracht wurde. Es klingt absurd, aber ich war erleichtert, dass mein Vater von Nazis ermordet wurde und so seine Unschuld bewiesen wurde."

Alle Hinweise auf Neonazis seien bei den Ermittlungen zur "Ceska-Mordserie" jahrelang ignoriert worden, kritisiert Birgit Mair, Leiterin des Instituts für sozialwissenschaftliche Forschung, Bildung und Beratung (ISFBB), und Expertin für die Verbrechen des NSU.

Nicht nur bei den Ermittlungen im Mord an Simsek, besonders im Fall Ismail Yasar, einem Nürnberger Imbissbetreiber, der am 9. Juni 2005 ermordet wurde, sei das deutlich geworden.

Damaliger Innenminister machte sich Notiz zum ersten NSU-Mord

Yasar hatte acht Monate vor seinem Tod einen bekannten Neonazi wegen Sachbeschädigung angezeigt. Das spielte bei der Suche nach den Tätern aber keine Rolle: "Man wollte auf jeden Fall verhindern, dass Rechtsextremisten die Täter sein könnten."

Drei Tage nach den Schüssen auf Enver Simsek machte sich der damalige bayerische Innenminister Günther Beckstein (CSU) auf einem Zeitungsartikel der "Nürnberger Nachrichten" zu dem Fall eine Notiz.

Sie kam auch im bayerischen NSU-Untersuchungsausschuss im Landtag im Jahr 2016 zur Sprache: "Bitte mir genau berichten. Ist ausländerfeindlicher Hintergrund denkbar?", fragte Beckstein.

Aber die Fahnder meldeten dem Ministerbüro zurück: Keine Hinweise "die eine solche Motivlage untermauern würden".

Im Untersuchungsausschuss erklärte der Politiker auch noch: "Ich hatte das sichere Bauchgefühl, aber keinerlei Beweise dafür, dass es Mittäter in Nürnberg geben muss, die frei herumlaufen". Bis heute ist nicht aufgeklärt, wer für die Mörder Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt die Opfer und Orte ausspionierte. Sie selbst konnten darüber keine Auskunft geben - sie nahmen sich 2011 nach einem Banküberfall auf der Flucht vor der Polizei das Leben.

Im Schutt des daraufhin von Beate Zschäpe im November 2011 in Brand gesteckten Hauses der Terrorgruppe in Zwickau sind aber Ausspäh-Notizen gefunden worden. In ihrem Plädoyer im NSU-Prozess hat die Nebenkläger-Anwältin der Simseks, Seda Basay-Yildiz, auf diese Zettel verwiesen. Es spreche nichts dafür, dass das NSU-Trio ohne Hinweise von außen in die Städte gefahren sei, um nach möglichen Tatorten zu suchen. Die Mörder hätten die drei Nürnberger Tatorte ohne örtliche Helfer nicht auskundschaften können, betonte sie.

"Die Opfer der NSU": Deutschlandweite Wanderausstellung

Davon ist auch Birgit Mair überzeugt, die die Wanderausstellung "Die Opfer des NSU" konzipiert hat, die bis heute deutschlandweit an über 200 Orten gezeigt worden ist. "Man muss doch davon ausgehen, dass das Leute aus der Nürnberger oder Fürther Neonaziszene gewesen sind", sagt sie. "Ich befürchte, der Staat und die Verfolgungsbehörden lassen hier die rechte Szene leider sehr glimpflich davonkommen."

Zschäpe wurde zwar zu lebenslanger Haft verurteilt, vier Helfer des NSU-Trios zu mehrjährigen Haftstrafen. Dennoch blieben nach dem Prozess in München viele Fragen offen - etwa zu weiteren Helfern des NSU, der Rolle des Verfassungsschutzes und seiner V-Leute. Nicht nur in diesem Punkt war die Enttäuschung nach dem Urteil groß.

Leid der NSU-Opfer habe beim Verfahren keine Rolle gespielt

"Eine Fortschreibung dieser Missachtung des Gerichts gegenüber den Opfern des NSU" seien die vorgelegten schriftlichen Urteilsgründe, heißt es in einer Pressemitteilung der Nebenkläger-Anwälte vom April 2020.

Auch Birgit Mair wird deutlich: "Die Opfer waren Menschen, die Familien hatten. All diese Tatsachen kommen in diesem Urteil nicht vor." Die Täter hätten Menschen ermordet, die dem Klischee eines türkischen Gastarbeiters entsprachen, die nicht in ihre rassistische Ideologie hineinpassten. Im über 3.000 Seiten umfassenden Urteil des NSU-Prozess würden nun wieder die Opfer "stereotyp in Textbausteinen so dargestellt, wie der NSU sie gesehen hat". Das Leid der Opfer habe bei dem Verfahren überhaupt keine Rolle gespielt.

Mahnmal NSU-Opfer Nürnberg NSU
Ein Mahnmal für die zehn Opfer der Terrorristen des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) mit der Aufschrift "Wir trauern um Enver Simsek 11. September 2000, Nürnberg" steht am Kartäusertor in Nürnberg.

Die Terrorgruppe "NSU"

Auf das Konto der rechtsextremistischen Terrorgruppe "Nationalsozialistischer Untergrund" (NSU) gehen zwischen den Jahren 1998 und 2011 mehrere Raubüberfälle und Bombenanschläge. Zwischen den Jahren 2000 und 2007 ermordete der NSU zehn Menschen - neun Männer türkischer und griechischer Herkunft sowie die baden-württembergische Polizistin Michèle Kiesewetter.

Ans Licht kamen die Taten des NSU erst im Jahr 2011 durch die Selbstenttarnung der Terrorgruppe. Hinter den Morden stand das Neonazi-Trio um Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe. Böhnhardt und Mundlos töteten sich im November 2011 in Eisenach nach einem Banküberfall auf der Flucht vor der Polizei selbst. Zschäpe veröffentlichte danach ein Bekennervideo und wurde kurze Zeit später festgenommen. 2013 begann der Prozess gegen sie und vier weitere Helfer des NSU vor dem Münchner Oberlandesgericht.

Im Juli 2018 wurde Zschäpe zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt, das Gericht stellte außerdem die besondere Schwere der Schuld fest. Das schriftliche, 3.000 Seite umfassende Urteil legte das Gericht 2020 vor. Die Strafe sitzt Zschäpe in der JVA Chemnitz ab. Im Rahmen der Ermittlungen gab es später erhebliche Kritik an den Verfassungsschutzbehörden und an der Rolle der V-Männer.