Ruckelnd fährt der Wehrmachtszug am Morgen des 13. März 1943 aus München Richtung Osten. Angehängt sind Güterwaggons voller Menschen. Unter ihnen: Gabriele Schwarz, ein fünfjähriges katholisches Mädchen aus dem Allgäu.

Sie wird hier vier Tage lang mit knapp 60 fremden Menschen zusammengepfercht sein. Die Türen sind von außen verriegelt: Die Nazis schaffen mehr als 200 von ihnen als Juden klassifizierte bayerische Bürger nach Auschwitz.

Gabriele ist die Pflegetochter der Bauernfamilie Aichele aus Stiefenhofen bei Lindau. Genau einen Monat zuvor hatten Josef und Therese Aichele das Mädchen abgeben müssen. Die Gestapo, der Landrat und der Bürgermeister wollten "die letzte Jüdin im Ort" ins Todeslager schicken. Die verzweifelten Aicheles hatten vergeblich protestiert. Die katholisch getaufte Gabi war das Kind einer zum Katholizismus konvertierten jüdischen Mutter.

Wanderausstellung im Allgäu: "Gabi. Geboren im Allgäu. Ermordet in Auschwitz."

Der Allgäuer Autor und Filmemacher Leo Hiemer hat ihre Geschichte für sein Buch "Gabi (1937-1943). Geboren im Allgäu. Ermordet in Auschwitz" recherchiert. Daraus entstand eine vom Bundeslandwirtschaftsministerium geförderte Wanderausstellung, die aktuell bis zum 30. August in Wolfegg bei Ravensburg gastiert.

Für seine Nachforschungen hat Hiemer unter anderem Aussagen aus Ermittlungsverfahren gegen ehemalige Münchner Gestapo-Beamte und SS-Leute von Anfang der 1950er Jahre ausgewertet sowie Zeitgenossen des Mädchens aus Stiefenhofen befragt.

Wie eine bayerische Heidi aus dem Schweizer Kinderbuch strahlt Gabi auf den Bildern der Ausstellung. Die Fotos waren von den Pflegeeltern an Gabis leibliche Mutter Lotte Eckart, geborene Schwarz, geschickt worden. Die verwitwete, berufstätige Frau stammte aus einer jüdischen Familie, war ebenfalls katholisch getauft, wagte es aber nicht, die Identität des nichtjüdischen Vaters von Gabi zu lüften. Verbindungen zwischen Juden und "Ariern" waren verboten.

Nur ein mutiger Schritt hätte das Leben von Gabi und Lotte gerettet

Und auch das Kind Gabi galt den Nazis als "volljüdisch". Es gab für die Mutter nur eine Lösung: Gabi als Pflegekind auf einem abgelegenen Hof zu verstecken und zu versuchen, für beide die Ausreise in die USA zu erreichen. Doch das misslang - obwohl Lotte Eckart glaubte, sich auf einen prominenten Fürsprecher, den Münchner Kardinal Michael von Faulhaber, verlassen zu können.

Gabi Schwarz mit ihrer Mutter Lotte Eckart
Gabi Schwarz mit ihrer Mutter Lotte Eckart.

Leo Hiemer hat die jahrelange Korrespondenz zu den 14 Besuchen der verzweifelten Frau beim Kardinal entdeckt und darüber das Theaterstück "Die Jüdin und der Kardinal" geschrieben. Es wird am 5. März 2021 am Stadttheater in Kempten Premiere haben.

Von Faulhabers Seite hätte es nur eines einzigen mutigen Schritts bedurft, meint Hiemer: Lotte Eckart und ihr Kind zu verstecken oder schnell außer Landes zu schaffen. Was nicht geschah: Lotte Eckart wurde 1942 in der NS-Tötungsanstalt Bernburg ermordet.

Gabi lebte weiterhin bei ihren Pflegeeltern auf dem idyllischen Einödhof mit Hofhund Frischle, vielen Katzen und Hühnern. Hiemer hat recherchiert, dass sie der Bauernfamilie wie ein eigenes Kind am Herzen lag: Sie war "die geliebte Gabi." Doch die Maschinerie des Holocaust lief unbarmherzig weiter.

Verfolgung und Tod könne in einer Tyrannei jeden treffen

Hiemer hat über das Schicksal des Mädchens erst in den 1980er Jahren erfahren, als im Ort Stiefenhofen nach 40 Jahren des Schweigens Auseinandersetzungen losgingen: Wollte man eine Gedenktafel für Gabi - ja oder nein? Da habe die Geschichte ihn gepackt.

Die vom örtlichen "Erinnerungskreis Gabriele" gestiftete Gedenktafel kam 1994 erst in einer kleinen Kapelle im Nachbarort Oberstaufen unter. Im Juli 2020 gelang es Hiemer und dem Kreis schließlich, die Tafel für Gabi in die Stiefenhofener Kirche zu holen. Auch Angehörige der Pflegefamilie des Mädchens waren bei der Einweihung dabei.

"Ich wollte so nah wie möglich an die Menschen ran", sagt der heute 66-Jährige. Er habe verstehen wollen, was wie und warum passierte, "um daraus für unsere Gegenwart und Zukunft zu lernen." Sämtliche Verfahren gegen die an Gabis Deportation Mitschuldigen seien Anfang der 1950er Jahre im Sande verlaufen, sagt Hiemer.

Deshalb trieben ihn bis heute Empörung und Wut an. Zeige doch gerade diese Geschichte, dass Verfolgung und Tod in einer Tyrannei jeden treffen könnten.

"Wer die Menschen in Rassen einteilt, der hat das Messer schon gezogen."

Und auch die katholische Kirche habe versagt, kritisiert Hiemer: "Gabis Glaube wurde verraten. Kein Schutzengel hat sie beschützt, kein Namenspatron gerettet, kein Gebet hat genützt, kein Kirchenfürst hat sich für sie eingesetzt." Gerade heute müsse man die Geschichten der Naziopfer neu erzählen, um die Menschen zu erreichen, betont Hiemer. "Vor allem die jungen. Wir müssen sie gegen die immer wieder neu populären Fantasien von Macht und Größe von Nation, Volk und Rasse immun machen."

Darum ist ihm auch die Wanderausstellung wichtig. Darin erzählt eine Hörstation von den letzten Stunden des Mädchens. Jeder kann selbst entscheiden, ob er sich der Schilderung des grauenvollen Sterbens aussetzt: Am Abend des 16. März 1943 befindet sich unter den unzähligen verkrallten Leichen der Gaskammer von Auschwitz auch ein kleines blondes Mädchen aus dem Allgäu.

Einen Monat zuvor hatte es sich den Berichten zufolge von seiner Pflegemutter mit den Worten verabschiedet: "Gell, Mama, du betest für mich, und ich bete für euch."

Weitere Stationen der Wanderausstellung:

  • 23. November - 11. Dezember 2020, Foyer des Landratsamtes Sonthofen
  • 14. Dezember 2020 - 17. Januar 2021, Synagoge Fellheim
  • April - September 2021, Stadtmuseum Memmingen im Hermannsbau

Mehr Informationen zur Wanderausstellung finden Sie auch auf der Homepage.