Ein junger Mann, vermutlich noch ein Teenager, ist es, der von dem Foto auf der Stellwand im Münchner NS-Dokumentationszentrum blickt. In schwarz-weiß – und mit dem skeptisch-zuversichtlichen Gesichtsausdruck, der jungen Menschen oft zu eigen ist. Allein: Christoph Moebs ist seit mehr als 85 Jahren tot. Moebs war Zeuge Jehovas und weigerte sich 1942 aus Glaubensgründen, an der Ostfront eine Waffe in die Hand zu nehmen. Im Alter von 20 Jahren erschossen ihn die Nationalsozialisten in der Ukraine.

Das Schicksal Moebs’ ist eines von vielen, die der wissenschaftliche Laie und Zeuge Jehovas Christoph Wilker aufgearbeitet hat. Ab Donnerstag sind zahlreiche von Wilkers Recherchen im Münchner NS-Dokumentationszentrum zu sehen. Die neue Wechselausstellung des Dokuzentrums beleuchtet die Verfolgung der Münchner Zeugen Jehovas im Nationalsozialismus. Erstmals werde ihr Leid umfassend dokumentiert, sagt Mirjam Zadoff, die Direktorin der Einrichtung.

Glaubensgemeinschaft wurde schon früh verfolgt

Die Verfolgung der Zeugen Jehovas im Nationalsozialismus war in der Bundesrepublik lange kaum wissenschaftlich aufgearbeitet worden. Erst seit den 1990er-Jahren findet das Thema langsam mehr Beachtung. Dabei ist die Glaubensgemeinschaft bereits früh und konsequent verfolgt worden, wie Zadoff sagt.

Schon im April 1933 wurde die "Internationale Bibelforscher-Vereinigung" in Bayern verboten. Bis zur Befreiung vom NS-Regime wurden 8.800 von 25.000 Zeugen Jehovas im Deutschen Reich inhaftiert, 2800 wurden in Konzentrationslager deportiert. Insgesamt kamen mehr als 1000 Mitglieder der Glaubensgemeinschaft zu Tode. Auch Berufsverbote oder kürzere Haftstrafen gehörten zum Repertoire der Verfolgung.

Wegen "Wehrdienstzersetzung" verfolgt

So ist Moebs’ Geschichte kein Einzelfall: Die Zeugen Jehovas seien die größte Gruppe unter den Kriegsdienstverweigerern im NS-Regime gewesen, sagt Zadoff. Sie wurden von den Nationalsozialisten wegen "Wehrdienstzersetzung" mit großer Brutalität verfolgt – Hunderte seien getötet worden. Für Wilker ist der junge Mann allerdings ein besonders bewegender Fall. Bei seinen Recherchen war Wilker in einem Archiv auf einen Brief Moebs’ an seine Eltern gestoßen.

"Liebste Mama", begann der damals 20-Jährige seinen Brief nach Hause. "Wie du dir denken kannst, tat ich dieses, um mich vor Jehova nicht eines Mordes schuldig zu machen", erklärte er seine Verweigerung, die ihm die Verurteilung zum Tode einbrachte. Noch als er den Brief schrieb, rechnete der 20-Jährige damit, dass ihm eine Flucht gelingen werde. Eine noch lebende Nachbarin der Eltern des jungen Mannes habe ihm vom Leid der Familie Moebs erzählt, berichtet Wilker. Vermutlich hätten die Eltern irgendwann die Erinnerungsstücke ihres Sohnes vernichtet, um ihrer Trauer Herr zu werden – so sei er nach 80 Jahren wohl der erste gewesen, der eine Kopie des Briefes im Archiv wiederfand und las.

Strikter Widerstand

Schicksale wie dieses finden sich in der neuen Schau zuhauf. Seit rund 20 Jahren dokumentiert Wilker in kleinteiliger Archiv­arbeit, aber auch in der Suche nach Zeitzeugen, die Historie von NS-Opfern. Auch Bilder und Dokumente aus dem Archiv der Zeugen der Jehovas finden sich in der Ausstellung.

Augenfällig ist die Standhaftigkeit, mit der viele Gläubige sich den Nationalsozialisten widersetzten: Nicht nur den Dienst an der Waffe, auch den Hitlergruß oder die Mitgliedschaft in NS-Organisationen verweigerten viele – gerade das brachte die Gruppe in den Fokus des Regimes. Wie strikt der Widerstand ausfiel, sei gleichwohl eine "individuelle Frage" gewesen, betont Wilker. So ließen sich – wie Moebs – einige Zeugen Jehovas zum Kriegsdienst einziehen, nahmen aber keine Waffe in die Hand. Andere widersetzten sich dem Militärdienst vollständig.

Mit der Schau will das NS-Dokumentationszentrum nach eigenen Worten die "Erinnerungsarbeit für die jahrzehntelang ›vergessenen‹ oder an den Rand gedrängten Opfer des NS-Unrechtsregimes" fortsetzen. Sie basiert auf dem zeitgleich vorgestellten Buch "Die Verfolgung der Zeugen Jehovas in München". Die Ausstellung ist noch bis 6. Januar 2019 im NS-Dokuzentrum zu sehen.