Als Anfang Dezember ein Dührener starb, versetzte der Todesfall das ganze Dorf in Schockstarre. Bis dahin lebten noch 35 Menschen im Ortsteil der Gemeinde Wittelshofen (Landkreis Ansbach), mit dem auch die Kirchengemeinde in einem Verbund ist. Jetzt waren es nur noch 34. "Wenn einer von uns stirbt, erschüttert dies das ganze Dorf", sagt Renate Kißlinger nachdenklich. "Es wird einem wieder mal bewusst, dass wir nur so wenige hier sind." Acht Katholiken, bestens integriert, treffen hier auf jetzt 26 Protestanten. Kißlinger ist Mesnerin der gotischen Michaelskirche und Mitglied des Kirchenvorstands der kleinsten Gemeinde Bayerns. "Ich bin die, die immer da ist", lacht sie.

Und dass sich die Dührener mit ihrer Kirche identifizieren, hat augenscheinlich eine jahrhundertelange Tradition. Erstmals erwähnt wird Dühren urkundlich im Jahr 1325, damals noch als eigene Pfarrei. Seit 1436 teilt man sich den Pfarrer mit Wittelshofen, der alle 14 Tage in Dühren Gottesdienst hält.

Kirche soll erhalten bleiben

Im Lauf der Jahrhunderte hatten Kirchenverantwortliche immer wieder mit dem Gedanken gespielt, die kleine Dorfkirche "dicht" zu machen. Aber nicht mit den Dührenern. In den 1980er-Jahren wurde St. Michael sogar renoviert. Dabei kamen Wandfresken aus der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts zum Vorschein.

"Wir waren immer dahinter her, dass die Kirche erhalten bleibt. Seit Jahrhunderten", sagt Karlheinz Müller, der neben seinem Amt als Lektor in der Kirche seines Heimatdorfs "alles, was mit Elektrik zu tun hat" sowie kleine Hausmeistertätigkeiten übernimmt. Zwischen 1985 und 1987 wurde die Kirche zum letzten Mal gründlich renoviert. Zu tun gibt es seither genug. Der schmucke Marienaltar und die Fenster machen immer wieder Arbeit. Man komme kaum hinterher.

Von der Wiege bis zur Bahre

Dennoch: "Hierher kommst du als Dührener erstmals mit der Taufe, und hier endet es auch", erklärt Müller. Renate Kißlinger nickt zustimmend. Wenn ab und an Konzerte in St. Michael stattfinden, dann kommen auch viele Auswärtige in das mittelalterliche Kirchlein und schätzen die urbelassene Atmosphäre. Die Kirche sei ein Dreh- und Angelpunkt in der kleinen Gemeinde. Und dennoch "klebt" man nicht nur an dem Gebäude als sinnstiftendes Element. In Dühren lebt es sich gar nicht mal so schlecht. Man ist umgeben von intakter Natur, hat sogar eine Haltestelle für den öffentlichen Personennahverkehr und den Schulbus und schnelles Internet. Tiefkühltruhen hat ein jeder sowieso. Die braucht man auch, weil man zum nächsten Laden ebenso wie zum Arzt eben immer ein Auto braucht.

Aber daran habe man sich schon lange gewöhnt, sei mit der Situation aufgewachsen. "Dühren ist wie eine große Familie. Man kennt sich, hilft sich aus, achtet aufeinander", meint Müller. Mit dem Forstunternehmen Lehr habe man sogar ein kleines Gewerbe. Landwirtschaft betreibt allerdings kaum noch jemand.

Die war noch allgegenwärtig, als im Jahr 1988 das Bayerische Fernsehen die kleinste Pfarrgemeinde Bayerns für sich entdeckte und eine Reportage über Dühren drehte und ausstrahlte. Der Streifen gehört im Dorf zum Nationalheiligtum, manchmal wird er zu feierlichen Anlässen wieder gemeinsam angeschaut. Kommen da Heimatgefühle auf? "Auf jeden Fall. Aber man wird sich wieder mal dem Lauf der Zeit bewusst, was sich in 30 Jahren alles verändert hat. Dann stellt man sich unweigerlich die Frage, was in wiederum 30 Jahren sein wird", so Müller nachdenklich.

Dorf Neugrub im Landkreis Kitzingen
Ein Kinderparadies auf dem Lande mit Traktor, Dorfbrunnen und Natur: gesehen im Dorf Neugrub im Landkreis Kitzingen.

Drei Jahrzehnte nach dem BR kam jedenfalls Helmut Haberkamm auch nach Dühren, um für sein Buchprojekt "Kleine Sammlung fränkischer Dörfer" zu recherchieren. Einem "Verständnis von Heimat, das nicht von oben, von den Großstädten und Sehenswürdigkeiten her entedeckt wird, sondern von unten, vom Unscheinbaren und scheinbar Unbedeutenden", spürte er nach – und fand es nicht nur in Dühren, sondern auch in den anderen Dörfern, die allesamt ihre individuellen Merkmale und Geschichten haben, die aber gerade wegen ihrer verschwindend geringen Größe eine Einheit darstellen, wie man sie bereits ab ein paar Hundert Einwohnern schon nicht mehr antrifft.

Meist fielen Menschen aus und von außerhalb Frankens zu den stilprägenden Elementen der Region in erster Linie die Stereotype ein: Franken steht für Schäufele, Lebkuchen und "Drei im Weggla" (drei Bratwürste im Brötchen), für Nürnberger Christkindlesmarkt und Erlanger Bergkirchweih, für Dürer, Wagner und Würzburger Residenz. "Franken pur" erlebe man aber vorwiegend in den Dörfern. Will man dem Heimatbegriff auf den Grund gehen, hier komme man an die Basis. "Franken ist weitaus mehr als die drei Regierungsbezirke, der Sprach- und Kulturkreis viel größer", sagt Haberkamm.

Heimat mal von unten her entdecken

Sein Buch ist kein bebilderter Reiseführer geworden, auch keine Reportagen-Sammlung mit Protagonisten: Auf den gut 200 Seiten findet man lediglich Grafiken und schematische Darstellungen. Zwar kommen die Dorfbewohner jeweils zu Wort, sie haben im Buch aber keine Namen. "Ich wollte einerseits deren Privatsphäre schützen, andererseits den Fokus auf dem Erzählten lassen", begründet Haberkamm diesen ungewöhnlichen Kniff.

Zusammen mit der im Weiler Fronhof (Landkreis Ansbach) aufgewachsenen Grafikerin Annalena Weber hat Haberkamm aus einer Liste von über 100 Kandidaten 20 solche Orte "von Hohenlohe bis zum Rennsteig" herausgesucht. Und die haben es in sich, sodass die 20 Kurzporträts, garniert mit kurzen "Steckbriefen", einigen Zahlen sowie schematischen Zeichnungen zur kurzweiligen und spannenden Lektüre werden.

Helmut Haberkamm
Helmut Haberkamm bei einer Lesung aus seinem neuen Buch "Kleine Sammlung fränkischer Dörfer" im Fränkischen Freilandmuseum in Bad Windsheim im November vergangenen Jahres. Der Lehrer und Mundart-Autor ist mit verschiedenen Programmen nicht nur in Franken unterwegs und bereichert das kulturelle Bild der Region um weitere Facetten.

Da ist beispielsweise vom 47 Einwohner-starken Döhlau die Rede, das im Bundesland Thüringen, allerdings im Landkreis Sonneberg liegt, und damit zumindest auf dem Sprachatlas in Franken. Bis 1990 lag Döhlau allerdings in der DDR. Um zum "Klassenfeind" zu gelangen, brauchte man einen Passierschein. Mancher träumte jedoch von einem dauerhaften Aufenthalt im Westen, was einmal schief lief. Von dem Toten an der Grenze, den Stasi-Spitzeleien und den unverschämten Russen, die nach der Wende beim Abziehen schnell noch alles mitgenommen haben, was nicht niet- und nagelfest war, erzählt man sich in Döhlau noch heute. Ein Trauma, das ein Dorf prägt, auch wenn dessen Geschichte schon viele Jahrhunderte länger fortgeschrieben wird. Immerhin: Wer noch in Döhlau lebt, der liebt: die Ruhe.

Das "hohenlohische Oktoberfest"

Ein Kuriosum ist sicherlich Musdorf im Landkreis Schwäbisch-Hall. Musdorf liegt in der Region Hohenlohe rund um Jagst, Kocher und Tauber, wo man zur ostfränkischen Dialektgruppe zählt. Bis 1806 gehörte der größte Teil der Hohenlohe zu Franken, bis er vom Königreich Württemberg einverleibt wurde. Noch heute zehrt diese Annexion an den heimatverbundenen Hohenlohern, die sich als "die vergessenen Franken" fühlen.

In Musdorf lässt man die alten Wunden allerdings ein paar Tage im Oktober ruhen. Dann wird das Dorf mit seiner Michaelskirche und den Bauernhöfen und Mastställen Gastgeber der "Muswiese" – auch gerne das "hohenlohische Oktoberfest" genannt. Rund 500 Aussteller und 140 Marktbeschicker versorgen dann rund 300 000 Besucher aus einem Einzugsgebiet von 100 Kilometer. Ein Fest mit Tradition, das wohl auf eine Wallfahrt zur Kirche um das Jahr 1000 zurückdatiert. Und ein Event, das für die rund 50 Einwohner auch identitätsstiftend ist.

Musdorf im Landkreis Schwäbisch Hall
Musdorf im "vergessenen" Teil Frankens, Hohenlohe. Hier wird jedes Jahr im Oktober ein Volksfest gefeiert, zu dem zigtausende Besucher von weit her anreisen.

Vielschichtig sind die Dörfer und deren Geschichten, die Helmut Haberkamm aufgeschrieben hat. Da ist die Rede von echten Typen, die Wirt, Krankenpfleger, Versicherungsvertreter und Metzger in einer Person sind – kurzum: sich vielseitig betätigen und das Leben auf dem Land schätzen, wo sie vielleicht so vielseitig sein müssen oder sein dürfen.

Und von Geschichten, die man wohl in der Stadt kaum wirklich erlebt: wie die von der Frau, die in der kalten Jahreszeit ihren Ofen immer zur exakt selben Zeit anschürte, sodass die Nachbarn stutzig wurden und sofort nach dem Rechten sahen, als der Rauch eines Tages mal nicht rechtzeitig aus dem Schornstein aufstieg.

Die Dorfbewohner erzählen gerne von früher, als "die Welt noch in Ordnung" war und es bei den wöchentlichen Schlachtfesten, die bei irgendeinem Bauer immer stattfanden, hoch herging, die Dorfwirtschaft noch offen hatte und gemeinsam das Feuerwehrhaus gebaut wurde. Die großen und kleinen Sehenswürdigkeiten gibt es nicht nur in den fränkischen Metropolen. Rockenbach (Landkreis Neustadt Aisch) hat sein "Schlössle", Neugrub (Landkreis Kitzingen) eine kleine Dorfkapelle im Privatbesitz.

Persönlicher und enger

Wer sich bemüht, der kann’s zu Hause auch "menscheln" lassen, trotz knapper Einwohnerzahl. Wie in Weimarschmieden (Landkreis Rhön-Grabfeld), ebenfalls in der einstigen Grenzregion der DDR gelegen, wo in den vergangenen Jahren aus ganz Deutschland Menschen zugezogen sind, um den Stammtisch im Wirtshaus zu beleben und hier nicht nur Natur und Ruhe, sondern auch Freunde zu finden.

Allerdings wird im Buch auch deutlich, dass diese vermeintlich heile Welt auf dem Dorfe gelitten hat und von der Gegenwart eingeholt wurde: Junge Menschen ziehen in die größeren Städte, Busse fahren nicht mehr die kleinen Siedlungen an, und natürlich will nicht jeder neu Zugezogene "mitmachen" in der Dorfgemeinschaft.

In Dühren hat man hierfür eine pragmatische Lösung gefunden: Ganz dem Zeitgeist folgend, hat man eine Dorf-WhatsApp-Gruppe gegründet. Wenn einer die Parole "Biergarten" postet, dann kommt, wer mag, mit Bier und Stuhl im Schlepptau aus seinem Haus und man trifft sich an einem zentralen Ort im Dorf. Dann wird über "Gott und die Welt" diskutiert, mit Sicherheit aber auch über das Leben in Dühren.

Und dann wird dem Leser schnell klar, was "Heimat" zumindest in diesem Moment bedeutet: "Heimat ist dort, wo man dich annimmt und versteht."

Zur Person: Helmut Haberkamm

HELMUT HABERKAMM wurde 1961 im Aischgrund geboren. Der hauptamtliche Gymnasiallehrer gab sein Debüt 1992 mit dem Band »Frankn lichd nedd am Meer«, eine poetische Hommage an seine Heimatregion und seine Muttersprache.

DIE MUNDART ist für Helmut Haberkamm zugleich Lebensgefühl und literarische Inspiration – ein Kulturgut, das er mit Leidenschaft und großer Kunstfertigkeit pflegt.

FÜR SEIN VIELSEITIGES WERK, das von Gedichten über Theaterstücke bis zum Roman »Das Kaffeehaus im Aischgrund« reicht, wurde er mit namhaften Auszeichnungen gewürdigt, zum Beispiel dem Ossi-Sölderer-Preis der Bayerischen Mundartfreunde, dem Frankenwürfel und dem Kulturpreis der Stadt Erlangen 2018.

SEIN AKTUELLES WERK enthält 20 Essays zu 20 Orten mit weniger als 150 Einwohnern, illustriert von der Grafikerin Annalena Weber. Die Dörfer liegen in Unter-, Mittel- und Oberfranken, aber auch in Hohenlohe und Südthüringen: Wo man eben Fränkisch spricht und sich dem Kulturraum Franken zugehörig fühlt.

BEI BESUCHEN, Gesprächen und Recherchen vor Ort wird der Frage nach dem konkreten Heimatgefühl und Gemeinschaftsgeist nachgegangen, den persönlichen Geschichten der Bewohner, den Licht- und Schattenseiten des ländlichen Lebens heute.