Am frühen Abend treffen sich etwa vierzig Personen in der Vorhalle des Ulmer Münsters. Die letzten Touristen und Besucher verlassen langsam das Gotteshaus. Ruhe kehrt ein. Letzte Sonnenstrahlen scheinen durch ein buntes Kirchenfenster und tauchen die Kirche in warmes Licht. »Das sind Augenblicke wie Edelsteine«, meint Anni Eschenbach vom dreiköpfigen Team der Münsterführungen.

Münster- und Tourismuspfarrer Peter Schaal-Ahlers spricht einführende Worte. Luthers Erkenntnisse – allein aus Gnade, allein die Schrift, allein durch Christus und allein der Glaube – seien als Befreiung zu verstehen: »Jeder Mensch steht, wie er ist, vor Gott. Bei Luther war Christus allein der Maßstab«, erläutert der Theologe. »Allein durch Christus«, heißt auch das Motto der Führung.

»Wege-Kirche mit Happy-End«

Die Gruppe steht im Innern des Münsters am Hauptportal und empfindet nach, wie es Eintretenden von dieser Stelle aus geht. »Der Blick geht nach oben, Gotik hebt den Blick«, sagt die ehrenamtliche Führerin Anni Eschenbach. Sie lädt die Teilnehmer ein, sich mit auf den spirituellen Weg zu machen. »Das Münster ist eine Wegekirche mit Happy-End. Für die Menschen des Mittelalters war das besonders wichtig«, so die Führerin. In der Wege- und Christuskirche begegne man Jesus immer wieder und in ganz unterschiedlicher Form.

Eschenbach zeigt das Bild des Auferstandenen, der im Glasfenster des Chores am Ende des 125 Meter langen Weges wartet. Es folgt ein Segensspruch für den Weg und die Gruppe macht sich auf zur nächsten Station. Eine ältere Besucherin nimmt zum dritten Mal an der meditativen Führung teil. »Man lernt das Münster besser kennen, bekommt geistliche Impulse. Es ist besonders, die Kirche ohne Touristen in der Stille zu erleben«, meint die Ulmerin.

Eine Kirche für 20.000 Menschen

Gabriele Gohl erläutert das Gründungsrelief. 1377 war Grundsteinlegung für die Bürgerkirche, die für 20.000 Leute konzipiert war, obwohl es damals nur 10.000 Einwohner in Ulm gab. Das Relief zeigt, wie der damalige Bürgermeister und seine Frau kniend dem ersten Baumeister Heinrich Parler das Münstermodell auf den Rücken legen. Oberhalb dieser Szene ist eine Kreuzigungsgruppe dargestellt. »Sie will uns sagen, dass Christus der Gekreuzigte der eigentliche Herr dieser Kirche ist«, so Gohl. Ein gesungenes Kyrie hallt sekundenlang im Raum der gewaltigen Kirche nach.

 

Relief der Gründung des im Ulmer Münsters
Das Gründungsrelief des Münsters stammt von 1377. Es zeigt, wie der Bürgermeister und seine Frau dem Baumeister ein Modell der Kirche auf den Rücken legen.

Peter Schaal-Ahlers führt zur nächsten Station. Im Nordschiff des Münsters hängen große Fahnen der Textilkünstlerin Verena Könekamp. Auf den Bannern sind historische Unterschriften zu sehen. Im November 1530 wurden in der freien Reichsstadt Ulm die Patrizier und die Mitglieder der Zünfte einzeln befragt, wie sie zur Reformation stehen. Sie beurkundeten dies mit ihrer Unterschrift. Mit überwältigender Mehrheit entschieden sie sich für die Einführung der Reformation in Ulm. Die Signaturen der Ulmer Bürger greift die Künstlerin in ihren Fahnen auf. Eine rote Fahne zeigt die Unterschriften derjenigen, die altgläubig bleiben wollten. »Der Künstlerin war es wichtig zu zeigen, dass die Menschen zu ihrem Glauben standen«, so der Pfarrer: »Was glaube ich und wie stehe ich zu meinem Glauben? Wo beziehe ich Stellung?«, fragt Peter Schaal-Ahlers. In der Stille wandeln die Teilnehmer unter den Fahnen und spüren diesen Fragen nach.

Jeder nimmt ein Licht mit nach Hause

Die Gruppe versammelt sich vor dem Schmerzensmann von Hans Multscher. Die Sandsteinskulptur berührt die Besucher unmittelbar. Sie zeigt den Auferstandenen als einen vom Leiden und vom Leid Gezeichneten. 1429 geschaffen ist er eine zentrale Figur im Münster. »Viele Besucher kommen nur wegen ihm«, meint Anni Eschenbach. Der Maler und Bildhauer Hans Multscher war ein früher Vertreter der Ulmer Schule, eines Stils des spätgotischen Realismus. »Die Leute konnten sich damals nicht mehr mit dem weichen Stil identifizieren, der alles geschönt darstellte«, erläutert die Führerin. Der Schmerzensmann ist körperlich sehr realistisch dargestellt, mit einem Blick, der in die Weite geht. »Er blickt nicht herunter auf den Menschen, er nimmt ihn ernst«, erläutert die Führerin. Peter Schaal-Ahlers liest aus Jesaja 53, dem Gottesknechtlied: »Fürwahr er trug unsere Krankheit«.

Der Text berührt tief vor dem Anblick des Schmerzensmanns. »Da steht einer für uns ein«, sagt Anni Eschenbach. »Wofür stehe ich ein? Wofür stehe ich gerade? Was stehe ich durch? Wem stehe ich bei?«, fragt sie. Christus weise den Weg als Licht. Deshalb rollen die Teilnehmer am Ende der Führung eine Kerze aus Bienenwachs und nehmen sie als Erinnerung mit. Aus der dichten Atmosphäre schlüpfen sie nach draußen in die Dunkelheit. Gedanken, Impulse und das Licht begleiten sie nach Hause.